Die Affäre um den Bundespräsidenten Christian Wulff ist nur der jüngste, durch die Prominenz des Angeklagten besonders aufsehenerregende Fall in einer Reihe von skandalträchtigen Vorkommnissen, die es dem deutschen Publikum erlaubten, sich über Korruption und Verworfenheit seines Führungspersonals zu empören. Dabei konnte man gelegentlich den Eindruck eines moralischen Exzesses gewinnen. Statt über die Verantwortungslosigkeit von Menschen, die doch Vorbilder sein sollten, derart in Erregung versetzt zu werden, hätte man sich ja auch etwas abgeklärter geben und fragen können, was von Personen in sogenannten Führungspositien eigentlich anderes zu erwarten sei als die Ausnutzung der eigenen Privilegien, in deren Bestand doch wohl das
Kultur : Umgekehrte Denunziation
Im Netz geht es Hochstaplern und Plagiatoren wie Karl-Theodor zu Guttenberg an den Kragen. Aber was ist das für eine Art Aufklärung?
Von
Magnus Klaue
das eigentliche Problem liegt.Ein ähnlich realitätsvergessener Moralismus prägte die Reaktionen auf die Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, über dessen „Unredlichkeit“ sich Teile der Öffentlichkeit derart erregten, dass die faktische Alltäglichkeit des zur Debatte stehenden Vorgangs kaum noch auffiel: Haben doch erklärte Spitzenpolitiker nicht zuletzt mit der Intrigenpflege und Machtsicherung so viel zu tun, dass es eher verdächtig wäre, wenn sie die Zeit hätten, ihre Doktorarbeit selbst zu schreiben. Gerade aber weil die Genannten tatsächlich taten, was ihnen all diejenigen zutrauten, die es ‚schon immer wussten‘, konnte man sich so gut über sie aufregen.Anders als der Fall Wulff, dessen Behandlung dem in der bürgerlichen Gesellschaft üblichen Prozedere von Anklage, Leugnung, neuer Enthüllung und Teilgeständnis im Rahmen der parlamentarischen Öffentlichkeit folgt, weist der Fall Guttenberg jedoch weit in die Zukunft. Grund dafür ist weniger die Person des Angeklagten als das Personal der Ankläger und Ermittler. Es handelt sich bei ihnen weder um Verkörperungen des moralischen Intellektuellen in der Tradition von Heinrich Böll und Günter Grass noch um den Typus des investigativen Journalisten, der mit Mut und Erfindungsgabe am Rande des Gesetzes, aber doch in dessen Namen agiert. Vielmehr ist mit Internetforen wie GuttenPlag oder VroniPlag eine Figur des „Aufklärers“ in die politische Öffentlichkeit getreten, die bislang als Sinnbild einer bloß technischen, letztlich apolitischen Intelligenz galt: der Informatiker.Der informationelle AufklärerSo wenig über die fast durchweg anonym operierenden Plagiatsjäger im Internet in Erfahrung zu bringen ist, dass es sich bei ihnen mehrheitlich um Informatiker oder zumindest um passionierte Netzexperten handelt, ist offensichtlich. Kaum zufällig hat fast zeitgleich mit ihren Enthüllungskampagnen mit der Piratenpartei eine Gruppierung an Bedeutung gewonnen, die zuvor zwar ökonomischen und gesellschaftlichen, aber kaum politischen Einfluss für sich reklamieren konnte.Sie alle streben auf bundespolitischer Ebene an, was Wikileaks auf globaler Ebene erreichen möchte: den Begriff der Aufklärung als „informationelle Aufklärung“ neu zu bestimmen. Informationelle Aufklärung zielt nicht mehr auf Mündigkeit im Sinne bürgerlicher Freiheit, nicht mehr darauf, die Individuen instand zu setzen, sich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Vielmehr wähnt sie sich selbst ganz positivistisch bereits im Besitz der Wahrheit, sofern sie im Besitz von Informationen ist, die sich gegen die vermeintlichen Agenten der Herrschaft in Dienst nehmen lassen. Informationelle Aufklärung erweist sich so als umgekehrte Denunziationsstrategie. Sammelt der herkömmliche Denunziant Informationen über vermeintlich subversive Elemente, so trägt der informationelle Aufklärer scheinbar subversive Fakten zusammen, um das zeitgenössische Herrschaftspersonal zu diskreditieren.Dabei könnte die Neuerfindung des Informatikers als politische Figur durchaus als Fortschritt gewertet werden, gewinnt doch mit ihr eine gesellschaftliche Gruppe politischen Einfluss, die für die Produktionssphäre längst unentbehrlich ist. Von Engels über Lenin bis hin zu Walter Benjamin gab es in kommunistischen Strömungen immer wieder Versuche, die Ingenieure, Techniker und Experten als potentielle Avantgarde eines revolutionären Umsturzes zu mobilisieren. Sie, nicht die faktisch längst abgeschriebenen, vom Modernisierungsprozess überholten Philosophen und Theoretiker, bildeten die eigentliche Vorhut der revolutionären Klasse, weil sie zugleich Menschen der Praxis und fähig seien, die in die Arbeitssphäre Gebannten über die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung aufzuklären, die in ihrer Tätigkeit liegen.Ähnlich könnten die Informatiker und Netzwerker als Fachleute für die avancierteste Sphäre gesellschaftlicher Produktion die Vorhut einer sozialen Umwälzung abgeben. Unbewusst liegen solche Erwägungen wohl auch der Begeisterung für soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter zugrunde, die als subversive Kommunikationsmedien gegen die globale „Kontrollgesellschaft“ ins Feld geführt werden, obwohl sie doch zugleich auch als deren fortgeschrittenste Instrumente gesehen werden können.Ähnlichkeit zum GegnerDass die Stilisierung des Netzwerkers zum Revolutionär nur scheinbar materialistisch begründet ist, in Wahrheit vielmehr einem enormen Medienidealismus frönt, beweisen ihre wichtigsten Akteure selbst. Ihre vermeintlichen Aufklärungskampagnen über das politische Führungspersonal begleiten die Betreiber von VroniPlag und verwandten Foren durchweg mit einem säuerlichen Moralismus, der über die Enge bürgerlicher Moralvorstellungen nicht etwa hinaus ist, sondern sogar hinter diese zurückfällt.Aufklärung im bürgerlichen Sinn verstand sich lange vor ihrer ideologiekritischen Zuspitzung durch den historischen Materialismus als Zertrümmerung des falschen Scheins, der mit seiner Realität konfrontiert und im Namen der Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten entzaubert werden sollte. So jedenfalls wurde Aufklärung bereits von den französischen Enzyklopädisten um Diderot im 18. Jahrhundert begriffen und praktiziert, indem sie die politische Rhetorik ihrer Zeit als Ausdruck und Rationalisierung von Unfreiheit zu entziffern suchten. Die Kampagnen der Plagiatsjäger indessen haben deutlich gemacht, dass es ihren Akteuren weniger um Kritik geht, sondern mehr um die unter dem Deckmantel politisch korrekter Empörung vorgenommene Entfesselung des Ressentiments. Substantielle Aufklärung hätte sich bemühen müssen, am Beispiel des Plagiats den Begriff des geistigen Eigentums seiner tiefen, und, wie die Debatte um das Urheberrecht zeigt, noch ungelösten Widersprüchlichkeit zu überführen. Stattdessen kaprizierten sich die informationellen Aufklärer auf die Person des Plagiators und seine vermeintliche Verantwortungslosigkeit und befeuerten damit den Hass all jener, die überall politische Konspirationen wittern und den Mächtigen stets das Schlimmste, sich selbst aber immer nur das Beste zutrauen.Begünstigt wird diese Verkehrung von Aufklärung in Ideologie durch das positivistische Missverständnis der Aufklärer, die Faktum und Wahrheit, Information und Begriff miteinander verwechseln und meinen, wenn nur überall „Transparenz“ herrsche, werde bald auch überall Freiheit herrschen. In Wahrheit legt diese Auffassung Zeugnis von der realen Verkümmerung individueller Freiheit ab, die nur noch als Informationsfreiheit, als „informationelle Selbstbestimmung“, überhaupt noch denkbar zu sein scheint, nicht aber als verwirklichte Autonomie. Wie eine Aufklärung, die sich keine Rechenschaft über die empirische Unfreiheit derer ablegt, die sie aufklären will, zur Lüge werden muss, so begünstigt ein Verständnis von Information, das keinem Begriff von Wahrheit mehr folgt, nicht die Aufklärung, sondern das Vorurteil und das Ressentiment. Auf diese Weise droht den informationellen Aufklärer, am Ende doch das zu werden, was man ihnen doch nicht als Absicht unterstellen will: Experten in Sachen Desinformation und Manipulation, die von ihren erklärten Gegnern kaum zu unterscheiden sind.