Da lag das meiste noch vor ihr: die Schriftstellerin Gisela Elsner im Jahr 1962
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Die sonderbare Gestalt hieß Oskar Matzerath und besaß die Unverschämtheit, von der eigenen Geburt zu berichten: „Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen.“ Der Satz gehört zu den berühmtesten aus Günter Grass´ Debütroman Die Blechtrommel. Da wird ein Ich geboren, und das erste Geräusch, das dieses sprachlose Wesen vernimmt – die Flügel eines Falters klappern gegen die Glasgehäuse der Leuchtfäden –, erweckt in ihm die Sehnsucht, möglichst bald in den Besitz einer Blechtrommel zu gelangen. Eine Begierde, die, man weiß es, gestillt werden konnte.
Mindestens einigen Mitgliedern der Gruppe 47 dürfte die Passage schon 1959, als der Luchterhand-Verlag Die Ble
hand-Verlag Die Blechtrommel veröffentlichte, bekannt vorgekommen sein. Drei Jahre zuvor war ein Band mit „Kürzestgeschichten“ namens Triboll auf den Markt gekommen, in dem eine – die Motte ausgenommen – sehr ähnliche Anekdote über eine Glühbirne und das Licht der Welt zu lesen war.Triboll erschien in dem ambitionierten Walter-Verlag aus dem schweizerischen Olten. Das Buch ist heute so vergessen wie sein Verlag, trug damals jedoch zwei Namen auf dem Cover, die Eingeweihten zweifellos ein Begriff waren. Die Überschrift Elsner • Roehler meinte das Paar Gisela Elsner und Klaus Roehler: Er ein aufstrebender Jungautor, der ein Jahr zuvor Gast der Gruppe 47 gewesen war, vor allem aber als Lektor von Günter Grass und dessen Blechtrommel in Erscheinung trat: sie seine gerade einmal neunzehnjährige Freundin, vor allem aber die eigentliche Autorin von Triboll, wie Roehler selbst betonte, der sich nur anrechnete, die Storys in die passende Form gebracht zu haben. Als bibliophile Beigabe zu den Kürzestgeschichten bot das Autorenpaar Zeichnungen von Günter Grass an, die der Verlag zwar ablehnte, die aber beweisen, dass der Blechtrommel-Autor Elsners Prosastück Das Licht der Welt kannte.Biografische VerwerfungenZu verdanken ist der Hinweis auf die Parallelstelle in Elsners und Grassens Werk der Hamburger Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel, die seit einigen Jahren die Ausgabe der Werke von Gisela Elsner im Verbrecher Verlag besorgt und aktuell zwei Bände mit den gesammelten Erzählungen – darin auch die Triboll-Texte – für den Druck vorbereitet: zwei weitere wichtige Marksteine auf dem Weg der Wiederentdeckung der 1992 in München gestorbenen Autorin.Müssen wir nun mit einer neuen Plagiats-Affaire rechnen? Kommt da neues Ungemach auf Grass zu? Die Frage, ob Roehler ein Blechtrommel-Zitat in Triboll schmuggelte oder Grass sich einer Elsner-Idee für seinen Matzerath bediente, wird vermutlich nur ein Blick in die Archive beantworten können. Und vielleicht nicht einmal der, denn Grass schrieb ja nicht erst an seinem ersten großen Roman, als Roehler ihn im Schutze seiner lektorischen Verdienste um Illustrationen zu Elsners Miniaturen bat.So oder so hat die Sache aber eine Dimension, die weit über jedes wörtliche Zitat hinaus reicht. Im Januar 1959, acht Monate bevor die Blechtrommel das Licht der Buchwelt erblickte, wurde im oberbayerischen Starnberg Elsners und Roehlers Sohn geboren, und – als stellte es eine Hommage dar – von seinen Eltern Oskar getauft, nach dem zweiten, dem literarischen Baby, an dessen Erzeugung der Vater zur selben Zeit beteiligt war. Ein Brückenschlag zwischen Literatur und Leben, der sich auf bemerkenswerte Weise fortsetzte: Im Alter von drei Jahren stellt der literarische Oskar sein Wachstum ein und ging der lebendige Oskar seiner Mutter verlustig, da sich die Eltern trennten. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Oskar Roehler den Familienroman Herkunft (siehe Freitag 39/2011), der nicht nur diese biografischen Verwerfungen reflektiert, sondern genau wie die Blechtrommel weit vor der Geburt des Ichs-Erzählers einsetzt.Platz in der LiteraturgeschichteTatsächlich wurzelt die zweite, posthume Karriere der Gisela Elsner in der Sichtweise ihres Sohns, der im Jahr 2000 die Lebensmüdigkeit und den Selbstmord seiner Mutter in dem Film Die Unberührbare in schwarzweißen Bildern nacherzählte und damit das Interesse der Öffentlichkeit an dem realen Vorbild der Kino-Figur Hanna Flanders erregte.Und diesmal verlief die Entwicklung endlich umgekehrt. Zu Lebzeiten Elsners verstellten ihre auffällige Gestalt, jener gern als pharaonisch apostrophierte Look, und ihr glamouröses Auftreten zunehmend den Blick auf ihr Werk. Das war allerdings primär einer Branche geschuldet, die dieses Bild einer Frau anfangs sehr zu schätzen wusste – der Kritiker Marcel Reich-Ranicki besprach einen Roman gleich anhand des Fotos der Autorin auf dem Buchdeckel und ohne ihren Namen zu erwähnen –, dann jedoch nicht mehr goutierte, als das märchenhafte Mädchen einen äußerst rauen Ton anschlug und schließlich auch noch Mitglied der DKP wurde.Zwanzig Jahre nach ihrem Tod setzt nun die Historisierung ein. Gisela Elsner nähert sich in langsamen, aber sicheren Schritten dem Platz in der Literaturgeschichte, der ihr bislang verwehrt blieb. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass der Verbrecher Verlag keine Mühen scheut, um das gesamte Werk der Elsner zugänglich zu machen; darunter etwa der Roman Heilig Blut über ein paar Altnazis und deren Lust an der Jagd, der zuvor nur in einer russischen Ausgabe zu haben war, oder die Kritischen Schriften, die bis dato in alle Blätterwinde verstreut waren, oder die Kapitalismus-Satire Otto, der Großaktionär, die Christine Künzel aus Elsners Nachlass nach dem Typoskript herausgegeben hat. Hinzu kommt die branchenübliche Institutionalisierung: Im Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg, das Walter Höllerer 1977 (das Jahr, in dem Elsner in die DKP eintrat) im ehemaligen Amtsgerichtsgebäude seiner Oberpfälzer Geburtsstadt eingerichtet hat, fand vor kurzem das zweite Elsner-Symposium unter dem trefflichen Titel „Ikonisierung – Kritik – Wiederentdeckung“ statt; gleich dessen Auftakt bildete die Gründung der Internationalen Gisela Elsner Gesellschaft, die die Einrichtung einer Dokumentations- und Forschungsstelle anstrebt.Neben Lady GagaOb dies alles der Schriftstellerin, die Vereinnahmungen aller Art mit zynischer Zunge parierte, merkwürdig erschienen wäre, kann dahingestellt bleiben, da die Revision gerade das Ästhetische mit Bedacht begreift. Das Symposium warb für sich mit einer raren Fotografie Elsners aus jungen Jahren, auf dem höchstens der verlängerte Lidstrich auf das spätere Kleopatra-Image deutet. Der Verbrecher Verlag wiederum stellt die Autorin im Porträt eines Comiczeichners vor, um das Elsner-Bild gleichsam von vorneherein als Markenlogo zu etablieren, wie Michael Peter Hehl, der wissenschaftliche Leiter des Literaturarchivs, in seinem Vortrag erkannte. Hehl war es auch, der Aufnahmen von Elsner und Lady Gaga nebeneinander stellte und damit die Aktualität eines solchen „re-modeling“ des eigenen Körpers augenfällig machte, das heute nicht annähernd so verstört wie noch vor 40 Jahren.Sogar die Tagung selbst kann man als Wiederkehr des Verdrängten beschreiben. Während bei der ersten Zusammenkunft in Elsners Namen vor fünf Jahren deren Debüt- und einziger regelrechter Erfolgsroman Die Riesenzwerge (1964) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, rückt nun auch das restliche Werk in den Blick, das bislang oft wie eine Nebensache abgetan worden war, als vertraute man ganz dem vielfach abwertenden Urteil von Elsners Zeitgenossen. De facto mangelte es bloß an gedruckten Ausgaben – womit die zentrale Bedeutung von Verlagen nicht nur für Leser, sondern auch für die Wissenschaft ein weiteres Mal erwiesen wäre.Nun geistern sie also endlich wieder durch die Diskurse, diese sonderbaren Gestalten der Gisela Elsner: die fünfjährige SS-Braut und aufrechte Nationalsozialistin Lisa Welsner aus Fliegeralarm etwa oder der vom SPD Wahlkampf angefixte Dessousfabrikant Mechtel aus Punktsieg oder der Kleinstaktionär Otto Rölz, der buchstäblich das Gesicht verliert, gerade weil ihm an nichts so viel wie an dessen Wahrung liegt. Nicht zu vergessen die „bedeutschten Deutschen“ aus Elsners unvollendetem Essay Flüche einer Verfluchten, von dessen dekonstruktiver Bewegung in Sulzbach-Rosenberg ebenfalls die Rede war.Der historische Bodensatz der BRD, die genealogische Last des Landes, der peinlich unbedingte Wille, all dem zu entkommen, und die groteske Vergeblichkeit dieser Hoffnung bilden Konstanten in Gisela Elsners Schreiben, keinesfalls aber die einzigen. Über die sprachlichen Konflikte im Angesicht dieser Unerträglichkeit des Seins kann man glücklicherweise bald noch mehr erfahren: Zerreißproben und Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen heißen die beiden Bände mit den Erzählungen, die im Herbst dieses Jahres zum zweiten Mal das Licht der Welt erblicken werden.