Thomas Ostermeier nähert sich am Deutschen Theater Maurice Maeterlincks »Blauer Vogel«, und Edith Clever inszeniert an der Schaubühne Hugo von Hofmannsthals »Elektra«
Die Bruchlinie, die zur Zeit zwischen den Generationen verläuft, hat härtere Konturen, als man dies auf den ersten Blick wahrnehmen kann, weil der Vatermord im Dunkel der Gleichgültigkeit und im Dschungel des familiären Untergrunds ausgeführt wird. Man gewinnt sogar den Eindruck, als würde sich die neue Generation mit der knallharten Realität abfinden, das hohle Pathos der Revolte der 68er-Debattanten mit einem müden Lächeln in den Orkus der Geschichte schicken. Doch die willfährig vollzogene Anpassung an das Reich der Notwendigkeit nimmt sich wie eine Maske aus, hinter der das Gesicht vom Feuer der Rebellion erhitzt ist.
Wenn das Feld der Deutung vom hermeneutischen Overkill der älteren Regie-Generation verwüstet wird, welche Frei
elche Freiräume stehen den jüngeren Inszenatoren dann noch zur Verfügung? Ein möglicher Ausweg wäre der Aufbruch in die indifferente Beobachtung der Welt. Emotionen werden bei dieser Vivisektion der Zeitgenossen nicht gezeigt. Man blickt mit kalten Augen um sich und schweigt.Eine Frage drängte sich bei der Stückwahl auf: Warum hat Thomas Ostermeier, der Herrscher der Baracke und kühne Usurpator der Schaubühne, der mit Shoppen und Ficken die Perversionen der Gegenwart ins Visier nahm, sich Maeterlincks Märchen für seine nächste Regietat - erstmals auf der großen Bühne des Deutschen Theaters - ausgesucht? Eine Empfindung prägte am nachhaltigsten die Annäherung Ostermeiers an Maeterlincks Symbolismus: Der Regisseur hat es geschafft, sich die Emotionen, die im Blauen Vogel uns in der Tiefe der Seele berühren sollen, weit vom Leib zu halten. Diese Indifferenz wurde konsequent durchgehalten. Mytyl (Anja-Marlene Korpiun) und Tytyl (Tilo Werner), die beiden einsamen Kinder, die sich auf eine Initiationsreise durch die Schrecken der Welt begeben, ficht nichts wirklich an. Sie gehen an den Graumsamkeiten vorüber, als wäre nichts geschehen. Selbst eine Verfolgungsjagd auf Jan Pappelbaums Drehbühne nimmt sich wie ein munterer Fitneßlauf aus. Daß die beiden Kinder von finsteren Mächten ins Unglück oder zu Tode gehetzt werden könnten, ist nicht zu spüren.Wahrscheinlich lag das Verführerische am Blauen Vogel für Ostermeier und sein Ensemble darin, daß dieses Drama (von Konstantin Stanislawski 1908 am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt) die Generation der 30jährigen aus ihrer Indifferenz herauskatapultieren könnte. Für die Generation, die im Umkreis von den 68er Heroen geprägt wurde, gibt es eigentlich nur die Haltung der Verweigerung. Denn die aufgeklärten Eltern wissen schon immer besser, was ihre Kinder denken, wie sie fühlen sollen. In der kühlen Distanz zu jeglichem politischen oder privaten Engagement ist die Haltung einer Rebellion zu spüren.Die Schmerzen der Kinder in Ostermeiers Blauer Vogel sind körperlicher Art. Immer wieder ergreift eine beinahe katatonische Starre Mytyl und Tytyl. Zahlreiche Gefährten auf der Drehbühne der Imagination verletzen sich ihre Gliedmaßen, schneiden sich selbst ins Bein oder trennen eine Hand vom Leib. Die Körper sind bereits verkrüppelt, manches Bein kann nur noch mit Hilfe einer Prothese gehen, mancher Brustkorb ist in ein Korsett oder in die schwarze, enganliegende Kluft der SM-Szene gezwängt. Die Schmerzen der Seele sind so stark, daß sie nur gestellt werden können, indem man dem eigenen Körper Wunden zufügt. Die Autoaggression unter Jugendlichen ist mittlerweile so groß geworden, daß sie von den Medizinern nach Magersucht und Bulimie als eigene Krankheit angesehen und anerkannt wird.Man kann nur erahnen, welche seelischen Schmerzen in einem Menschen wüten, der sich selbst verunstaltet, seinen eigenen Körper zerstört. Und doch ist der tiefe Wunsch zu spüren, daß dieser stumme Schrei von den Mitmenschen gehört wird. Wie eine Botschaft, die eigentlich einen anderen nicht erreichen darf, steht auf dem Kostüm der allegorischen Figur Zucker (Falk Rockstroh) - Zorros schwarzem Höschen -: Hot skin. Wie sehr ein menschlicher Kontakt mit einer anderen Person auch gewünscht wird, die harte, abweisende Körperpanzerung (Kostüme: Rufus Didwiszus/Bernd Dkodzig) rückt den Partner in eine Distanz, zerstört im Ansatz schon den Wunsch nach Vereinigung.Die Idee der romantischen Liebe sucht Thomas Ostermeier erst am Ende seiner dreistündigen Inszenierung heim. Endlich kann Tytyl von der Suche nach dem blauen Vogel ablassen und ihn der kranken Nachbarstochter als Geschenk geben. Die Hingabe wird mit einem zarten Kuß besiegelt, und der blaue Vogel fliegt davon. Nur die Mutter weiß schon wieder alles besser. Sie verspricht den Kindern, daß das fortgeflogene Glück wieder eingefangen werden kann.Der stumme Schrei, der in Thomas Ostermeiers Blauer Vogel ausgestoßen wird, ist neben all den verhaltenen Emotionen das Signum der neuen Regie-Generation. In Edith Clevers Inszenierung von Hugo Hofmannsthals auch am Beginn dieses Jahrhunderts entstandenem Einakter Elektra ist am Beginn von der Titelheldin ein ohrenbetäubender Schrei zu hören. Die Erinnerung an die Ermordung des Vaters durch die Mutter Klytämnestra (Edith Clever) und Ägisth (Rainer Philippi) sitzt Elektra tief in den Knochen. Über diesen Meuchelmord ist Elektra nie hinweggekommen. Die grausame Tat der Mutter hat das Herz der Tochter verwüstet.In Edith Clevers Inszenierung wird der Schmerz, der Elektras Körper mit gewaltigen Ausbrüchen durchzuckt, mit selbstzerstörerischer Direktheit ausagiert. Martina Krauel kriecht zunächst wie ein Tier aus ihrer Höhle, die sie vor dem Palast bezogen hat. Der von allen Göttern verlassenen Elektra ist nur noch ein Dasein möglich, das sie auf der niedrigsten Stufe der Empfindungen zeigt. All ihre Energie ist auf eine Rache gerichtet, die keinen neuen Anfang im Leben mehr zulassen wird. So eindeutig ist ihr Entschluß, gegen die Mutter vorzugehen. Das Angebot ihrer Schwester Chrysothemis (Dörte Lyssewski), sich wieder dem Leben zuzuwenden, weist sie entschieden zurück. Martina Krauel zeigt ihre Elektra als eine Frau, die ihren Körper der Selbstzerstörung preisgegeben hat. In der Vision ihrer Rache ist ihr eigener Untergang miteinbezogen.Der Schrei, der aus Martina Krauels Körper wie eine Urgewalt hervorbricht, ist ein Schrei nach Erlösung. Endlich einmal sollen ihre Nächsten sie hören, auf sie eingehen und sie aus ihrer unermeßlichen Einsamkeit befreien.Edith Clevers Inszenierung behauptet den Furor des Körpers gegen eine kahle und erledigte Umgebung. Der Palast ist ein Rundbau aus massiven Betonplatten. Öffnen sich die Türen, blickt man in eine nur schwach illuminierte Finsternis. Auch der Baum auf dem Vorplatz des Palastes hat alle Blätter verloren. Die Äste ragen in einen eiskalten Himmel.Leider hat Edith Clever nicht ganz der enormen Expressivität ihres Körpertheaters vertraut. Gegen Ende, als Orest (Clemens Schick) zurückkehrt und Elektras Rache ausführt, wird von der Tonspur viel Erklärendes abgesondert, und auch das Licht hüllt das Haus der Eltern in einen blutroten Farbton. Am Beginn der Aufführung konnte man dieses rote Licht, das die Palastwände überflutete, als eine Erinnerung oder als eine Vision sehen. Nun erzählt das rote Schimmern zu klar von Morden und Abschlachten.Am Ende tanzt Elektra mit einer Fackel einen Todestanz. Keine wirkliche Kraft trägt mehr ihre Glieder, nur noch mühsam hält sich die große Einsame auf den Beinen. Das Feuer, das sie in ihren Händen schwingt, kann ihren auf Rache sinnenden Körper nicht mehr erwärmen. In der letzten Szene schreitet Elektra mit langsamen Schritten auf die Mauer des Palastes zu. Ihr Körper wirft zunächst übergroße, gespenstische Schatten. Je näher Elektra ihrem Elternhaus kommt, desto kleiner wird die Schattenfigur, bis Elektra endgültig mit ihrem pechschwarzen Schatten eins wird. Elektra bricht am Schluß ihrer Mission zusammen. Kein Mensch kann sie mehr aus ihrer Not aufrichten. Kein Mensch kann sie mehr trösten. Elektras Körper hat die endgültige Agonie erreicht.