Kultur
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... als wäre er gerade mal in die Kneipe gegangen
In Müllenbach im Oberbergischen Kreis entstand in einem hundertjährigen Gebäude ein "Haus der Geschichten", das sich jeden Tag mit diesen Geschichten verändert
Wer wohnt in dem Haus?" fragte die Frau vom Amt den frischgebackenen Eigentümer in Müllenbach, Graf-Albert-Straße 40. "Geschichten", antwortete er. "Ist das nicht Wohnraumzweckentfremdung?" fragte die Frau irritiert. "Es ist der schönste Zweck, den ein solches Haus haben kann", sagt Harry Böseke, Eigentümer, Erfinder und Spiritus rector vom "Haus der Geschichten".
Der erfolgeiche Jugend-, Kinderbuch- und Hörspielautor lebt mit seiner Familie seit 20 Jahren in einem vier Jahrhunderte alten Haus in Müllenbach, seit seinem zweiten Lebensjahr ist der 49-jährige im Oberbergischen Kreis heimisch. Gummersbach ist die Hauptstadt dieses großen Kreises entlang der Autobahn 45, der im Norden bis Wuppertal, im Süden bis Rheinland-Pfalz reicht. Eine
icht. Eine idyllische, sanft hügelige Landschaft mit vielen romantischen Talsperren, kleinen verschlafenen Dörfern mit alten Bauernhöfen, deren historische Prägung durch die Steinbruch- und Pulverindustrie nur noch in Spuren zu ahnen ist. Als die alten Leute, die ein paar Schritte vom Hause der Bösekes entfernt in einem dieser typischen Schieferhäuser wohnten, ins Altenheim umzogen, sollte das Haus abgerissen werden. Etliche Investoren standen bereit, die tausend Einwohner von Müllenbach mit einer modernen Wohnanlage zu bereichern. "Dabei ist das Haus keineswegs baufällig und vor allem in seinem ursprünglichen Zustand und seiner eigentlichen Funktion nahezu vollständig erhalten", erzählt Böseke. Der Schriftsteller hat jahrelang Kulturpfade und Wanderungen durch die Landschaft der Region entwickelt, Sagen und Legenden der Gegend ausgegraben und neu aufgeschrieben, kennt die historischen Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen genau. Deshalb wusste er auch, was das Besondere an diesem Gebäude ist: Es war das Haus für die Steinkühler, die Arbeiter in den Steinbrüchen, in denen die Grauwacke abgebaut wurde (und in einigen wenigen Betrieben noch maschinell abgebaut wird). Die Grauwacke ist ein besonders harter Stein, der für die Straßen, auf denen die Schwertransporte aus dem Ruhrgebiet durch das Bergische Land in den Süden gingen, gebraucht wurde. Auch der Schotter zwischen Bahngleisen ist aus der rauhen, nicht rutschigen Grauwacke. Für die Steinkühler gab es einen Kaufladen in dem Haus, einen Schiedsmann und einen Arzt, der auch dort wohnte.Böseke kaufte das Haus, um die Geschichten, die es erzählt, zu bewahren und um die Leute, die diese Geschichte erlebt und gestaltet haben, zum Erzählen zu bewegen. Aber zunächst brachten die Nachbarinnen und Nachbarn, was sie an Möbeln, Haushaltsgegenständen, Bildern und Büchern auf Dachböden, in Kellern und Schränken fanden. Im Hause selber standen noch so manche Koffer und Kisten mit Spuren aus 100 Jahren. Böseke richtete die Räume in ihrer ursprünglichen Funktion wieder her: Der 50 Jahre geschlossene Kaufladen im Erdgeschoß sieht nun wieder so aus wie damals, als die Steinkühler dort einkauften: Das Originalregal steht wieder, alte Frauen fanden Tütchen mit Senfkörnern und Safran von 1920, die Tochter der ehemaligen Kauffrau brachte das alte Anschreibebuch. "Das stellen wir aber nicht aus, die Namen sind ja alle noch vorhanden", sagt Bösecke. Im oberen Stockwerk kommt einem das Sprechzimmer des Arztes so vor, als wäre er gerade mal in der Kneipe, wo er sich nach der Überlieferung sehr oft aufgehalten hat. "Er war aber trotzdem ein guter Arzt", weiß Böseke von seinen Nachbarn. In dem kleinen Zimmer wurde für Spritzen angetreten: Männer rechts, Frauen links. Neben dem Sprechzimmer wohnte in einer winzigen Kammer der Kaufmann, mit dem Arztgeheimnis war es nicht weit her ... Geschichten, wie sie vierzehntägig auf den "Klönabenden" im Wohnzimmer gegenüber dem Kaufladen erzählt werden und zu denen jeder kommen kann, der Lust dazu hat. Böseke lockt vielleicht mit einer kleinen Geschichte, einem Film, "aber oft ist das gar nicht nötig". Da hängen Bilder, auf denen sich jemand wiedererkennt und die Geschichte dieses Bildes erzählt, da bringt jemand eine Lohnliste von 1920 mit, die er beim Großvater gefunden hat, da wird über eine Liste zur Landtagswahl Ende der zwanziger Jahre diskutiert, die Böseke im Haus entdeckt hat: 165 Stimmen gab es für die Sozialdemokraten, 117 für die Deutschnationalen und 94 Stimmen für die Kommunisten, eine sozialistisch gesinnte Arbeiterschaft war das in Müllenbach. Dokumente zu den Zwangsarbeitern in Müllenbach hat Böseke auch gefunden, sie harren noch der Auswertung. Häufig werden Autorinnen und Autoren aus der Umgebung eingeladen, die in der Atmosphäre eines Wohnzimmers jeden Nimbus eines fremden, fernen Dichters verlieren. Da kann auch ein hochdekorierter Lyriker wie der Kölner Jürgen Becker mit 30 Leuten aus der Umgebung ausgesprochen entspannt klönen. Aus den Erzählabenden wird jetzt ein Buch, Ein Haus erzählt ein Jahrhundert (Gronenberg Verlag), darin gibt es auch Geschichten, die Müllenbacherinnen und Müllenbacher selber erlebt haben oder von ihren Eltern und Großeltern erinnern. "Das Haus hat was mit uns zu tun, das wissen sie und deshalb gibt es hier keine Schwellenängste", hat Böseke erfahren. Eine 91-jährige kommt jeden Sonntag, wenn das Haus offiziell geöffnet ist, weil sie es als Dorfgemeinschaftshaus empfindet. Kinder kommen und stöbern in den alten Büchern. Ein "Dialog der Generationen", es fehlt noch der weniger getragene Titel, soll im nächsten Jahr einen festen Platz im Programm bekommen.Im Wintergarten neben dem Wohnzimmer wird jeweils ein "aktuelles Fenster" eingerichtet mit jahreszeitlich passenden Utensilien. Im Herbst sind das Einkochtöpfe, Weckgläser, Vorratsbehälter. In der Diele stehen Nähmaschinen und Webstühle für die Schmuckbänder, mit denen die Frauen der Steinbrucharbeiter Geld verdienten. Ein Zimmerchen, das ehemalige Kontor für die Steinkühler, zeigt die Grauwacke, Werkzeuge, den Koffer, in dem die Arbeiter ihre Habseligkeiten verwahrten, Lohnlisten, den Henkelmann, in dem sie ihr Essen von zu Hause mitbekamen. Ein Kämmerchen versammelt Utensilien der Fuhrleute. Der Kreis hatte die größte Dichte an Fuhrmannslokalen, weil Pferdefuhrwerke das beste Transportmittel in der Hügellandschaft waren. In der Waschküche kann man in einem Buch lesen, das die "Fleißigen Bienen" angelegt hatten, genossenschaftlich organisierte Frauen, die gemeinsam wuschen und genau aufschrieben, wieviel "Kraft" (Strom) Licht und Seife jeweils von wem verbraucht wurden. Neulich erst ließ eine 94-jährige Nachbarin eine Holzbottichwaschmaschine von 1900 bringen - genauso alt wie das Haus. Sie richtete aber aus, sie könne sie nur leihen, falls mal wieder schlechte Zeiten kämen. Im ehemaligen Stall, in dem eine Bleisatzstraße steht, die jemand kürzlich vor der Vernichtung gerettet hat, soll demnächst der alte Backofen reaktiviert werden.Ein Museum ist das nicht, das "Haus der Geschichten", denn nichts steht wohlgeordnet in Vitrinen, es gibt auch keine Schildchen mit klugen Erklärungen. Böseke führt sonntags die Besucher durchs Haus, alles darf angefasst werden, die Geschichten dazu erzählt der Hausherr. Nostalgie ist nicht gefragt, Böseke geht es um die sinnliche, vor allem auch kindgerechte, Vermittlung von Arbeitsleben und Arbeits- und Lebensbedingungen. Er erzählt, dass die Steinkühler gegen die Kälte mindestens zwei Flaschen Schnaps am Tag tranken, dass die Vorarbeiter alle aus Norditalien kamen, weil sie dort den Umgang mit Marmor gelernt hatten, der auch so hart ist wie die Grauwacke. Er erzählt ebenso von den reichen "Pulverbaronen", die oft vom Kaiser besucht wurden und 300 Jahre lang Reichtümer anhäuften. Die Elemente sind, wenn man so will, der rote Faden durch die Geschichtenräume: Die Steinbrucharbeiter stehen für die Erde, die Pulvermacher für das Feuer, die Waschfrauen für das Wasser.Es wird auch gekocht in der Küche des Geschichtenhaus, im einzigen Raum, der Ansprüchen des Jahres 1999 genügt.Kein Museum, kein Kulturzentrum, vielleicht ein Zentrum für Literatur: Harry Böseke will sich und das Haus nicht festlegen auf eingefahrene Kästchenbegriffe. Eine Kinderschreibwerkstatt gibt es, ein Autorinnentreffen aus dem Bergischen Raum. "Am ehesten soll hier die Verbindung von Literatur und Arbeitswelt deutlich werden", meint der Schriftsteller, der selber lange im "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" aktiv war. "Auf keinen Fall machen wir Âevents oder sowas, es soll ein Haus der Begegnungen für sogenannte ganz normale Leute sein, es war ihr Haus mit all seinen Funktionen in den vergangenen hundert Jahren und es soll ihr Haus bleiben. Es ist lebendig, weil es sich ständig verändert." Finanziell trägt sich das Haus sozusagen selber: Böseke arbeitet mit Volkshochschulen, Akademien und Bildungswerken zusammen, ein gemeinnütziger Förderverein sammelt Spenden.Informationen: Müllenbacher Haus der Geschichten, Graf-Albert-Straße 40, 51709 Marienheide-Müllenbach., Tel. Fax 02264/1567.