FREITAG: Herr Braun, zunächst herzliche Glückwünsche zur Zuerkennung des diesjährigen Büchner-Preises. Was ging Ihnen durch den Kopf, nachdem die Nachricht aus Darmstadt Sie erreicht hatte?
VOLKER BRAUN: Dieser einzigartige Autor Georg Büchner war mir von jung an eine Autorität für die Dinge der Kunst. Ich hatte einmal einen Text zu schreiben, in dem ich Büchner auch als politischen Gewährsmann benutzte, es war ein Nachwort zu einer Ausgabe von Briefen. Als der Lektor dann sah, dass nicht nur ein Haar in der Suppe war, sondern der ganze Schopf, mussten die Briefe ohne das Nachwort erscheinen - das sie ja auch nicht brauchen. Mein Text erschien nur in Frankreich, in der Zeitschrift Connaissance de la R.D.A., und zwar auf Deutsch. Er wurde von
ar auf Deutsch. Er wurde von den Franzosen stolz in die DDR-Botschaft getragen, und das führte zu einer Katastrophe.Die Frage zielte noch in eine andere Richtung: Die ersten Reaktionen auf die Meldung von der Preisvergabe waren in Deutschland durchweg positiv; »hochverdient« sei der Preis, »höchste Zeit« sei es gewesen, dass Volker Braun diese höchste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum erhält. Vor Tisch las sich das freilich anders, da wurde Ihnen - in der »FAZ« - nachgesagt, »Minnedienst am totalitären Staat« verrichtet zu haben. Ist das nicht kurrios?Das war die Aphasie des Kalten Kriegs. Der eigene Tisch steht weit weg von derartigen Äußerungen. Die Arbeit macht man sozusagen um jeden Preis. Was ich mich frage, ist, ob es der eigene verdiente Moment ist. In der DDR, wo es ja nicht viel Preise gab, kam es vor, dass der zugedachte Preis wegen einer neuen Arbeit gleich wieder weggesteckt wurde. Für den Nationalpreis waren Heiner Müller oder ich, wegen Produktivität, keine möglichen Adressaten, bis die Akademie sich weigerte, andere Vorschläge zu machen. Nein, ich antworte nur, dass der Preis zunächst die vornehme Funktion hat, an diesen Büchner zu erinnern.Ist aus Büchner jüngst nicht auch etwas Beliebiges geworden, wenn Sie an die letzten Preisträger denken?Bei uns gab es den Heine-Preis. Als ich den annahm, sagte ich, das Ministerium müsse eigentlich davor zittern, dass man im Geist Heines ein paar Äußerungen macht. Büchner ist von einem solchen Kaliber, dass man eine Akademie dafür bewundern muss, wenn sie ihn nicht steckbrieflich suchen lässt.Sie sind als Schriftsteller in der merkwürdigen Lage, zwei unterschiedliche deutsche Rezeptionsgeschichten erlebt zu haben. Ihre Gedichte sind rasch auch im Westen erschienen, das Theater war enger an die Verhältnisse in der DDR gebunden, weil ein ganzer Apparat mitziehen musste. Die Uraufführung - oder ihre Verhinderung - geriet zum politischen Ereignis. Haben Sie diese Dimension der Theaterarbeit als Handicap empfunden oder als zusätzlichen Kitzel?Das Theater war nicht unter einer so restriktiven Obhut wie das Fernsehen - und doch ein öffentlicher Vorgang. Aber das ist überall so. Ich denke mit gutem Gefühl an die Arbeit des Zürcher Theaters am Neumarkt zurück, an dem »Simplex Deutsch«, »Transit Europa«, aber auch »Lenins Tod« inszeniert wurden, am Fuß der Spiegelgasse...Einige Ihrer Stücke, etwa »Tinka«, haben in der DDR heftige Debatten hervorgerufen. Ist Vergleichbares noch vorstellbar?Ich mag das Stück nicht und also Vergleichbares nicht mehr. Ich mag aber auch das Theater nicht, das sich an die Spaß- und Geldbedürfnisse anpasst. Es ist ja rätselhaft, wie Peymann es schon einmal schafft, eine Spielzeit des Berliner Ensembles fast zu verschenken.Absicht war, der »Stachel im Arsch der Regierung« zu sein.Man muss sehen, wo das Herrschende tatsächlich verletzlich ist, wo man ihm nahe treten kann. Als Christoph Heins »Napoleonspiel« herauskam, stieß Hein plötzlich auf heftige Abwehr - ein Indiz dafür, dass er einen Punkt getroffen hatte, die Gewissenlosigkeit. Dass er Prügel bekam, war der Beweis, dass Literatur Sinn macht. Im öffentlichen Denken werden Ersatzdiskussionen geführt, mit großem journalistischem Einsatz, Debatten, die von den Problemen ablenken. Und der Bundestag fällt, mit Aufwand, Entscheidungen über Ersatzproblerme. Von der Kunst wird selbstredend nicht erwartet, ins Zentrum der Dinge zu treten.Kann sich die Kunst diesem Spiel entziehen, dem bloßen Wirbel? Besteht nicht die Gefahr, dass sie sich damit zufrieden gibt, öffentlich überhaupt noch vorzukommen?Noch bezahlt zu werden. Wenn wir uns nicht in einer bestimmten Geschichte wissen und begreifen oder wenigstens als Gattung etwas von uns erfahren wollen, müssen solche enormen Erkundigungen wie das Theater einfach verkommen. Was heute als blinder Fleck erscheint, ist das, was wir vom Menschen halten. Ist er ein verantwortliches oder bloß durch seine innere Struktur determiniertes Wesen, das entweder gut oder böse ist und dem man nicht mehr zumuten kann, geschichtlich zu handeln? Diese Müdigkeit oder Unlust, nach dem Menschen zu fragen, hat zur Folge, dass er auf der Bühne nicht auftritt. Es reagieren die Puppen des Zeitgeists.Blinde Flecken erfassen, das scheint das Unterfangen Ihrer Prosaarbeit zu sein, von »Bodenloser Satz« von 1988 bis zu den neuen Erzählungen des Bandes »Das Wirklichgewollte«. So, wie dort die Geschichte albanischer Flüchtlinge, die in ein Haus eindringen und ein betagtes Paar in Bedrängnis bringen, umgewendet und umgewandelt wird, gerät etwas ins Flattern und Flimmern, bis man sich fragt, was da nun war?Der »Bodenlose Satz« zog eine Summe von Erfahrungen, die ältere Texte aufhob und kritisierte. Es sollte ein dickes Buch werden, doch bei mir werden es dreißig Seiten. Das reicht auch. Vielleicht nicht unwichtig: Der erste Satz beginnt in Basel, am jungen, schon verdorbenen Rhein. Wie dort diese jungen, ausgeflippten Frauen mit hochgehobenen Röcken vor dem Hotel stehen, mit herausfordernder Lebensgier, signalisiert, dass es um etwas Existenzielles geht, das nicht nur eine verlorene deutsche Gegend betrifft. Ein Kontrapunkt in einer anderen mir lieben Gegend. Dann folgt diese zähe Geschichte des Auszugs eines Dorfs, seiner Eliminierung aus der Landschaft, um dem Tagebau Platz zu machen, für einen schäbigen Gewinn von einigen Stunden Stromproduktion. Ein Wirtschaften, das bedenkenlos ein Drittel des Bezirks Cottbus wegschrappt, wird zur Metapher für unsere bedenkliche Art, eine neue Welt zu bauen. Der Entzweck aller Erfolge die »Devastierung«? Das Schreiben selbst wird zur Grabung, in die Schichten der Geschichte, die Vergangenheit, die Grabstätte der erschlagenen Russen. Vielleicht bedarf es einer solchen Technik, um an den Ort zu kommen, an dem die Krise wohnt, wo wir selber abhanden kommen, wo alles Selbstverständliche sinnlos wird. Wo zwei sich nicht lieben können, weil der Streifen Land, auf dem sie sich niederlegen, weggebaggert wird. Dem Wegbrechen der Gewissheit aber musste eine Zeit des Aufbruchs vorangehen, von Hoffnung, die man in eine Gesellschaft setzt. Das Schreiben verbraucht diese Hoffnung: Das, worauf wir setzen, verbrauchen wir. Das macht den Ernst der Arbeit aus.In einem Gedicht aus dem Jahr 1974 stehen die Zeilen: »Ohne mit der Wimper zu zucken / Nicht einmal augenzwinkernd / Wechseln wir die Sachen / Und bleiben bei unseren Begriffen.« Hat sich das mit dem Ende der DDR erledigt? In »Das Wirklichgewollte« sagt der emeritierte Professor Badini, Fachmann für Revolutionen, dass Revolutionen nicht mehr gemacht werden, sondern sich ereignen. Ist das heute der »Unterricht«?Unter uns gesagt, es gibt Badini, und es interessierte mich, wie er den »Umbruch« erlebte. Seine Wissenschaft steht Kopf, die Arbeiterklasse stieg dort auf, wo sich die Welt nicht änderte. Was hat er davon zu halten, dass die alternative Welt, die seine innere Welt war, aber nicht seine wirkliche, wegbricht? Es war doch seine Gesellschaft, die sich ständig revolutionierte, rüde und rasch, während ich unsere Revolution die langsame nannte. Es gibt raschere und es gibt zähere Geschichte, und zu erwägen wäre, ob sich die tiefere Intention, die auf mehr hinauswill, mehr Zeit lassen muss. Es gibt auch vernunftlose Revolutionen, und auch in dieser Hinsicht sind wir geschichtsgeschädigt. Die kapitalistische Dauerrevolte ist im Ganzen Rationalisierung, aber nicht Rationalisierung des Ganzen.Was Sie sagen, berührt sich mit der Kritischen Theorie: Das Ganze ist das Unwahre, das war auch gegen Hegel gesagt. Im Detail geht es durchaus rational oder besser rationell zu, aber insgesamt kommt Irrationalität heraus.Badini, der sich zugeben muss, einem Opportunismus zu folgen, wie der Baum, der um einen Stein herumwächst, findet sich damit ab, dass ihm sein Thema abhanden kommt. Aber die auf so andere Weise geordnete Welt wird durchkreuzt von den Flüchtlingen, die ein anderes immenses Thema sind. Wenn er sich fragt, was das war, was wir wollten, als wir wussten, was wir wollten, weiß er keine generelle Antwort mehr. Die Bedürfnisse sind verschieden, wie Not und Behagen. Wir versuchen, für die Welt zu denken, und merken, sie ist überall anders. Es war fast nur ein Spiel, in diesen Erzählungen die Sonde in eine Gegend zu senken, Italien, Sibirien, überall prallen Gegensätze aufeinander. Deshalb ist es ein vergangener Gedanke, nach einer gerechten Welt für alle zu fragen. Es ist der aktuellere, den der Subcomandante Marcos denkt: eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Das ist vielleicht überhaupt der schönere Gedanke, der viele unterschiedliche Räume begreift. Jeder hat seine Würde und seine Möglichkeit. Das wäre ein Denken, das dem Geist der Globalisierung zuwiderläuft.Kann die Welt dies so, wie sie heute ökonomisch strukturiert ist, denn zulassen? Ein US-Konzern hat sich beispielsweise einen in Indien beliebten Imbiss, den fliegende Händler anbieten, als Patent schützen lassen. Er wird all diese Imbissköche arbeitslos machen. Kann man gegen die derart übermächtige Tendenz Widerstand leisten?In Sanaa diskutierten kürzlich arabische und deutsche Dichter die Frage, ob die Globalisierung zu einer Weltsprache der Poesie führt. Da die Araber eine sehr alte, eigene Tradition haben, die Deutschen eine andere, lag es nahe, auf dem Gebiet der Kultur das Eigenständige, Besondere für etwas Kostbares zu erachten. »Weltliteratur« heißt ja nicht Allerweltsliteratur. Allein das Bewusstsein davon, dass man nicht in die eine Richtung laufen muss, sondern die Kraft und die Schönheit des Eigenen behauptet, kann bestimmte Disziplinen, die da eher opportunistisch verfahren, wie die Architektur, ermutigen, nicht dem großen Trend zur Synthese nachzugehen. In der Ökonomie ist das schwieriger, in der Militärtechnik unmöglich. Warum aber müssen aus Teetrinkern Coca-Cola-Konsumenten werden? Aber das sind vielleicht Ansprüche, für die es bald zu spät ist.Was kann ein Land machen, das beschließt, keine gentechnisch manipulierten Lebensmittel zu vermarkten? Sich mit einer Berliner Mauer abschirmen?Nein, nein, die zivilisierten Länder werden aus Kampfhubschraubern das nicht manipulierte Simmentaler Rind abschießen. Die Naturmilchproduktion in einer eigensinnigen barbarischen Alpenrepublik wäre schon ein Kriegsgrund. Die manipulierten Kriegsgründe der letzten Jahre waren weniger greifbar.Vor einiger Zeit haben Sie als einer der wenigen in Deutschland den von Umberto Eco, Jacques Derrida, Jürgen Habermas und anderen unterzeichneten Pariser »Appell zur Wachsamkeit« unterstützt. Wachsamkeit gegenüber der Verführung Intellektueller durch Rechtsaußen. Wie sehen Sie das heute, wenn Sie lesen, dass nicht ein versprengter Intellektueller, sondern ein Staatsminister der rot-grünen Bundesregierung einem Blatt der neuen Rechten ein Interview gibt?Das sind Vorgänge in der Sphäre der Meinungen. Ich verstehe schon, dass das mit Sorge betrachtet wird, aber müssen nicht auch andere Vorgänge beachtet werden, die Tatsachen schaffen, durch die extremes Denken entsteht? Umwälzungen, die kaum der Rede wert scheinen, die aber alles auf einen anderen Boden stellen, die Veränderungen der Besitzverhältnisse, die verborgenen sozialen Verwerfungen, die einem sublimen Erdrutsch gleichkommen?Gehören zu diesen Verschiebungen auch neue Formen von Gewalt in der Gesellschaft?Es gibt auch die Gewalt von Sachen, die ausgrenzende Gewalt bestimmter Kapitalinteressen. Sie wird nicht nur gegen Bevölkerungen, sie wird auch gegen Regierungen geübt, die sich nicht unterwerfen. Und die Gewaltaktionen, die uns vorexerziert werden als harte Gabe der Demokratie, Konflikte zu lösen, Kriege, die mitten in Europa geführt werden, erschüttern jede Sozietät bis ins Elementare. Man fühlt sich in den Dreißigjährigen Krieg versetzt, mit Ministern als Landsknechtsführern. Was wir »notwendig« nennen, ragt nicht in die Zukunft.Das Gespräch führte Lothar Baier