»Vielleicht zum ersten Mal haben wir uns in einem einzigartigen Spiegel betrachtet und erkannt, dass wir in anderen Zeiten und Strukturen leben, und dennoch ein einziges Gemeinwesen bilden«. So fasst Ramón Rocha Monroy, Ex-Kulturminister und einer der meistgelesenen bolivianischen Schriftsteller, den Geist der neuen Verfassung zusammen und wirft die Frage auf nach dem Ist-Zustand des im »Herzen Südamerikas« gelegenen Landes. Seit dort Evo Morales 2006 und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) regieren, wird viel über eine gespaltene Gesellschaft geschrieben. Daran wird auch die neue Verfassung zunächst nur wenig ändern.
Erstmals wurde aber der Entwurf dazu von einem gewählten Konvent ausgearbeitet, erstmals stand diesem eine Frau und Indígena vor, erstmals konnten Boliviens Wähler per Referendum über ihre obersten Gesetzesnormen abstimmen.
Magna Carta für die unterdrückten Völker
Diese neue Magna Carta reflektiere „die unterdrückten Völker«, freut sich Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú aus Guatemala. So könnten die tiefen historischen und politischen Probleme endlich gelöst werden, die für das Land eine verfahrene Lage heraufbeschworen hätten. Die Indigenen bekämen endlich die »Chance, sich als etwas Eigenes zu sehen«. Die Verfassung sichert allen 36 indigenen Nationen Boliviens fortan das Recht auf ihre eigene Kultur, Sprache und Rechtsprechung zu, sie garantiert den Zugang zu öffentlichen Ämtern und eine Selbstverwaltung. Bestimmendes Motiv ist dabei nicht, wie Boliviens rechts-konservative Opposition unterstellt, die Ablehnung der »gesamten westlichen Kultur« und die Etablierung eines kulturellen Biotops, in der Viehdiebe mit Steinigung zu rechnen hätten, Vergewaltiger aber gegen Abgabe eines Haufens Ziegelsteine an die Opferfamilie ungestraft davonkämen. Der Vorwurf, Morales' Bewegung würde in die Vergangenheit flüchten und ein neues Reich »wie zu Zeiten der Inkas« anstreben , statt Lösungen in der Zukunft zu suchen, passt zur paranoiden Argumentation der MAS-Gegnerschaft.
Recht auf kostenlose Bildung für alle Bolivianer
Die Autoren der Verfassung waren sich über den instabilen Seelenzustandes ihrer Nation durchaus im Klaren. Sie verankern eine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft ebenso wie eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien. Lezteres korrespondiert mit einem Privatisierungsverbot für Bodenschätze und der Hinwendung zu kooperativ-kommunitären Wirtschaftsformen. Künftig gilt für alle Bolivianer das Recht auf kostenlose Bildung. Ausländische Militärstützpunkte auf bolivianischem Hoheitsgebiet werden geächtet. Angesichts heftiger Abwehrreaktionen von Großgrundbesitz und Unternehmertum bleiben weitere radikale Einschnitte vorerst aus. So bleibt jeder Landbesitz unterhalb einer Grenze von 5.000 Hektar unberührt. Eine Präsidentschaft wird auf maximal zwei Amtszeiten begrenzt. Für den Analysten Francisco Xavier Itturale in La Paz ist das neue Grundgesetz darum »ein für Bolivien typisches Potpourri«, eine »Mischung aus Sozialismus, Indigenismus, Revolution und Reform«. Vollendet ist die Wiedergründung des Landes, mit der fünf Jahrhunderte Kolonialismus für immer ad acta gelegt werden sollten, jedenfalls noch nicht.