In vier Vorstädten rund um Paris wurde zuletzt mit Schusswaffen wiederholt auf Polizisten geschossen. Nach den Unruhen von 2007 dreht sich die Gewaltspirale erneut
Der Geheimdienst „Sous-Direction de l’Information Générale“ (SDIG) hat Recht, wenn er von einem „Tabubruch“ spricht, ebenso die Tageszeitung Le monde, die das Thema am 17. März sogar als Aufmacher brachte. Bei derartigen Angriffen mit Jagd- und Kleinkalibergewehren wird wieder einmal an der Spirale der Gewalt gedreht, die bei Banlieue-Unruhen im Herbst 2007 bereits ein erschreckendes Ausmaß erreicht hatte, als tage- und nächtelang Autos und öffentliche Einrichtungen angezündet wurden. Die Ursachen des damaligen Aufruhrs wie der Brutalisierung, die im Augenblick zu erleben ist, würden weithin missverstanden, ist der Soziologe Robert Castel überzeugt.
Zunächst sei die Vorstellung abwegig, schreibt Castel in seinem
n, ist der Soziologe Robert Castel überzeugt.Zunächst sei die Vorstellung abwegig, schreibt Castel in seinem Buch über Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, die Unruhen gingen in der Peripherie der französischer Großstädte von Ghettos im strikten Sinne des Wortes aus. In der Tat sind im Unterschied zu den Schwarzen-Ghettos in Chicago die französischen Banlieues ethnisch nicht homogen. Trotz eines hohen Anteils von Einwanderern aus dem Maghreb, deren Kinder zumeist die französische Staatsbürgerschaft besitzen, bildet die französisch-stämmige Bevölkerung in diesem Milieu weiter die Mehrheit. Und während die Arbeitslosenquote von Personen außereuropäischer Herkunft in den Banlieues zwischen 30 und 50 Prozent liegt, arbeiten im Schwarzen-Ghetto von Chicago ganze 16 Prozent der Erwachsenen regelmäßig.Die meisten Jugendlichen sprechen kein Wort ArabischVollkommen realitätsfern erscheint ferner die Vermischung der maghrebinischen Wurzeln dieser Vorstadtjugend mit dem Islam schlechthin oder gar mit einem politisierten Islam. Drei Viertel der Jugendlichen mit Eltern maghrebinischer Herkunft sprechen kein Wort Arabisch und haben keine religiösen Bindungen. So spielten denn auch bei den Unruhen von 2007 weder der Islam noch religiöse Anführer auch nur die geringste Rolle. Polizeiliche oder auch publizistische Konstrukte, die sich auf einen „Islamismus“ in den Vorstädten beziehen, halten empirischer Überprüfung nicht stand.Nicht viel präziser und stichhaltiger sind die Thesen von der ausgegrenzten Vorstadtjugend. Deren massiver und zuweilen gewalttätiger Protest resultiert aus der Verzweiflung, dass man zwar rechtlich-politische und soziale Staatsbürgerrechte besitzen kann, dass „liberté, égalité und fraternité“ jedoch im Alltagsleben, im Umgang mit Schulen, Polizei und Justiz permanent verletzt werden. Vorstadtjugendliche werden nicht als gleichberechtigt behandelt und anerkannt, sondern nach der Hautfarbe taxiert.Es gibt eine Diskriminierung aufgrund des Aussehens durch Schule, Polizei und Justiz, aber auch auf dem Arbeitsmarkt. Ein Jugendlicher mit arabisch klingendem Namen hat fünf Mal weniger Chancen, auch nur zu einem Vorstellungsgespräch geladen zu werden als einer mit gleichen Noten, aber französischem Namen. Anderssein wird zu einem Faktor der Ausgrenzung. Frankreich behandelt die Nachkommen nordafrikanischer Einwanderer nicht im biologischen Sinne rassistisch, wohl aber in sozialer Hinsicht: sie werden permanent in eine vermeintlich „erbliche Einwanderer-Situation“ gestellt, eine rechtlich wie menschlich monströse Kategorie. Die Diskriminierung der wegen ihres Aussehens sichtbaren Minderheit und die pauschale Zuschreibung religiöser und kultureller Besonderheiten durch Frankreichs Mehrheitsgesellschaft deutet Castel als Symptom von deren „Staatsbürgerschaftsdefizit“.Ignoranz der MehrheitsgesellschaftDie seit über 20 Jahren periodisch wiederkehrenden Unruhen in den Vorstädten sind Akte der Verzweiflung von Jugendlichen, die weder drinnen noch völlig draußen sind. Sie sprechen Französisch, sie haben politische und soziale Rechte, aber sie werden an die Ränder der Gesellschaft gedrückt und stigmatisiert. Weil ihnen Rechte und Anerkennung verweigert werden, glauben sich einige von ihnen im Recht, wenn sie „im Namen des Rechts kriminell werden“ (Castel)Aus diesem Dilemma helfen keine Aufrüstung der Polizei und keine Verschärfung der Strafen, wie sie nach den Schüssen in den vergangenen Tagen von Vertretern der Polizeigewerkschaften gefordert wurden. Zentral ist vielmehr die Verbesserung der Bildungs- und Berufschancen der Jugendlichen. Es ist „Aufgabe des Sozialstaats, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, um die soziale Unabhängigkeit der Bürger zu sichern – ihre soziale Staatsbürgerschaft“, schreibt Robert Castel. Die Schüsse auf Polizisten sind kein Zeichen dafür, dass der Bürgerkrieg beginnt, aber ein Indiz, dass es fünf vor zwölf ist und Zeit, ein soziales Problem anzugehen, das die Mehrheitsgesellschaft seit Jahrzehnten vor sich her schiebt.