Europawahlen sind beim deutschen Wähler nicht sonderlich beliebt. Noch nie haben so wenige Deutsche bei einer bundesweiten Wahl ihre Stimme abgegeben. Mit einer voraussichtlichen Wahlbeteiligung von 42,5% haben die heutigen Wahlen zum Europäischen Parlament sogar noch weniger Wähler zum Gang zur Urne bewegen können als bei den letzten Europawahlen vor fünf Jahren. Sechzehn Wochen vor den Bundestagswahlen gelten die Europawahlen eher als repräsentative Sonntagsfrage für die „echten“ Wahlen. Vor allem im Willy-Brandt-Haus dürfte dieses Testvotum eingeschlagen haben wie eine Bombe. Mit katastrophalen 21,3%* hat die SPD ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei bundesweiten Wahlen eingefahren. Für den Bundestagswahlkampf müssen sich die
Politik : Ohrfeigen für SPD und Europa
Vor allem die geringe Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2009 zeigt: Die deutsche Politik sollte unbequeme Entscheidungen nicht mehr auf Brüssel schieben. Das rächt sich
Von
Jens Berger
die Sozialdemokraten etwas einfallen lassen, um auch in der nächsten Legislaturperiode als Juniorpartner in einer Großen Koalition mitregieren zu dürfen.EuropamüdigkeitEs erscheint paradox – die Kompetenzen des Europäischen Parlamentes nehmen sukzessive zu, während das Interesse der Wähler an der Arbeit in Straßburg abnimmt. Der Wahlkampf der sechs großen Parteien ließ dann auch europäische Themen gleich links liegen und stand ganz im Schatten der Bundestagswahlen. Europa wird vom Wähler immer mehr als Hort der Bürokratie wahrgenommen und nicht mit demokratischer Mitbestimmung verbunden. Schuld an dieser Europamüdigkeit sind vor allem die Parteien. Unbequeme Beschlüsse werden immer wieder gerne auf Brüssel geschoben, so als sei die deutsche Politik ein Opfer der Brüsseler Bürokraten.Ein Beispiel für diese Verdrängungstaktik ist die umstrittene Umsetzung der Vorratsdatenspeichung. Es ist zwar richtig, dass die deutsche Politik hier eine EU-Richtlinie umsetzen muss, deutsche Europapolitiker haben diese Richtlinie allerdings mitentwickelt und - anders als Irland und die Slowakei - hat die deutsche Regierung auch im EU-Ministerrat für diese Richtlinie gestimmt. Wenn Europa stets als Sündenbock für schwer kommunizierbare Entscheidungen vorgeschoben wird, und die Politik es unterlässt, ihre eigenen Aktivitäten in den europäischen Instanzen zu kommunizieren, muss sie sich nicht wundern, wenn der Wähler sich für Europapolitik nicht begeistern kann.Wer nicht wählt, wählt bürgerlichDie Europawahlen haben eine vielzitierte Fehleinschätzung Lügen gestraft – trotz der historisch niedrigen Wahlbeteiligung konnten in Deutschland die rechtsextremen Parteien kaum Stimmen sammeln. Wer nicht wählt, stärkt in Deutschland daher nicht das rechtsextreme, sondern das bürgerliche Lager. Gewinner dieser Europawahl ist – neben dem Lager der Nichtwähler – das bürgerliche Lager. Das Ergebnis von Union und FDP liegt ganz im Trend der Meinungsumfragen für die Bundestagswahlen. Zusammen scheitern die Parteien des bürgerlichen Lagers zwar hauchdünn an der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen, mit 52 Abgeordneten können Union und FDP jedoch mehr als 50% der 99 deutschen Europaparlamentarier stellen.Das Ende der Volksparteien?Innerhalb des bürgerlichen Lagers schnitt die FDP mit 10,3% jedoch wesentlich schlechter ab, als es die letzten Umfragen hätten erwarten lassen. Hier rächt sich ein plakativer Wahlkampf, der politische Inhalte weitestgehend ausgespart hatte. Wenn Union und FDP bis zum September auf ihrer Erfolgswelle reiten können, wird Deutschland wohl in den nächsten vier Jahren schwarz-gelb regiert. Klarer Verlierer der Europawahlen ist die SPD. Kaum mehr als jeder zehnte Wahlberechtigte gab seine Stimme für die Sozialdemokraten ab – ab wann verliert eine Partei eigentlich das Prädikat „Volkspartei“? SPD und Union konnten zusammen lediglich 59% der abgegebenen Stimmen für sich verbuchen. Das heißt auch, dass noch nicht einmal jeder dritte Wahlberechtigte den Volksparteien seine Stimme geben wollte.SPD im Tal der TränenIn den ersten Statements klagten die enttäuschten SPD-Granden, sie hätten es nicht geschafft, ihre Wähler zu mobilisieren. Warum gerade SPD-Wähler bei Europawahlen lieber zu Hause bleiben, ist dabei nicht ersichtlich. Es ist wahrscheinlicher, dass die 20%-Marke das reale Stimmungsbild der deutschen Bevölkerung ausmacht. In der „Kampa 09“ dürften nun die Köpfe rauchen. Wie soll sich die SPD aufstellen, um bei den Bundestagswahlen nicht ähnlich desaströs abzuschneiden? Der Wähler nimmt der SPD einfach nicht mehr ab, dass sie mehr gegen Dumpinglöhne unternehmen wird als die Union, Finanzhaie weniger hofieren als die FDP, oder weniger heiße Luft verbreiten als die Linke. Um das Pendel für sich ausschlagen zu lassen, wird die SPD sich deutlicher von der Union absetzen müssen. Der Bundestagswahlkampf wird an Schärfe zunehmen, da sich die SPD deutlich kämpferischer geben muss. Aber wie soll sich die SPD von der Union distanzieren und gleichzeitig eine Große Koalition als realistisches Ziel ausgeben?Grüne und Linke – ordentlich, aber perspektivlosVon den Grünen und der Linken wird die SPD kaum Wähler abwerben können. Während die Grünen mit 12,3% ein beachtliches Ergebnis einfuhren und drittstärkste Kraft wurden, können die Linken mit ihren 7,2% nicht zufrieden sein. Die Linke muss sich die Frage stellen, warum sie es trotz Finanz- und Wirtschaftskrise nicht vermochte, die kapitalismuskritische Stimmung in der Bevölkerung in Stimmen für sich umzuwandeln. Angesichts der Stärke des bürgerlichen Lagers und der Schwäche der SPD sinkt allerdings die Wahrscheinlichkeit rapide, dass es nach den Bundestagswahlen eine Regierung geben wird, deren Chefin nicht Angela Merkel heißt. Um die Kanzlerin vom Thron zu stoßen, müsste die SPD ein Wunder vollbringen.*Hochrechnung des ZDF von 19:20