Wenn sich Schüler nur noch von Test zu Test durchbeißen müssen, drohen uns amerikanische Verhältnisse. Erfahrungen eines Pädagogen in Philadelphia (USA)
Wer hätte gedacht, dass es so schwierig sein kann, in eine Schule reinzukommen: Der Metalldetektor schlägt an. Ich ziehe auch noch das Jackett aus. Immer noch Metall. Den Gürtel aus. Immer noch Metall. Abtasten. Oh, ein deutscher Einkaufschip in meiner Hosentasche ist der Übeltäter. Nun gut, ab jetzt weiß ich, was mich erwartet bei einem Schulbesuch in den USA. Jedenfalls in einer Innenstadtschule, in einer Schule „downtown“. „Down“ nicht weil sie darniederliegt, sondern weil die Stadtzentren an den Flüssen liegen, also am tiefsten Punkt der Stadt. Heute leben dort die Armen. Hier in Philadelphia heißt das oft auch: die Schwarzen.
In der Test-Mühle
Heute ist Freitag. In Philadelphia heißt das: Testtag. Philadelphia ist
g. Philadelphia ist das Paradies für jeden Anhänger der Standardisierung von Bildung: Die Lehrer erhalten eine Broschüre für jeden Kurs. Darin wird ihnen bis in jede einzelne Stunde hinein vorgeschrieben, was sie zu unterrichten haben. Bis zum Herbst gab es dann alle sechs Wochen einen zentral vorgegebenen Test. Seit dem Herbst ist das Paradies vollkommen: Nun gibt es jede Woche einen Test. Von Montag bis Donnerstag arbeitet man die Planbroschüre ab, Donnerstag findet man den Test in seiner Postbox, und am Freitag schreibt man den Test. Am Montag geht’s von vorne los.Angst vor PetzeEine Lehrerin läuft durch die Klasse, im Mantel – die Heizung reicht nicht bis hier. Sie blafft einen Schüler an: „Da steht doch, dass du die schattierte Fläche berechnen sollst. Das wird wohl das Schwarze dort sein.“ Sie scheint nicht zu merken, dass der Schüler wirklich Schwierigkeiten hat, den Text zu verstehen, obwohl auch sie selbst keine Muttersprachlerin ist – sie stammt aus Afrika. Hinterher frage ich sie, warum sie nicht sehr viel direkter manipuliert. Sie könnte den Test gemeinsam mit den Schülern lösen, dann wäre vielleicht auch Lernen dabei möglich. Sie sagt, dass die Schüler das erzählen könnten, wenn mal eine Kontrolle kommt und man nachfragt. Dann wäre sie ihren Job los.An der Universität lehre ich zwei Kurse für Lehrer, die einen Master-Abschluss machen wollen. Die Lehrer lassen sich kaum auf die Frage ein, was inhaltlich oder pädagogisch sinnvoll ist. Die erste Frage ist immer: Wie kriege ich das in meinen Pflichtplan rein? Wie können meine Schüler zum richtigen Zeitpunkt den Test bestehen?Die Testwerte sind in Philadelphia wichtig, weil die Schulen entsprechend der Testwerte Gelder zugeordnet bekommen: Man hat also einen Polarisierungsmechanismus eingebaut: Wer gute Testwerte produziert, soll in die Lage versetzt werden, das noch stärker zu tun. Wer schlechte Testwerte produziert, soll … ja was eigentlich? Die Lehrer noch schlechter bezahlen? Noch weniger Geld in die Begleitung bzw. Fortbildung der Lehrer stecken? Die Bibliothek zumachen?Philadelphia hat „Magnetschulen“ eingerichtet. Das sind Schulen mit besonderen Schwerpunktsetzungen, die wie Magnete auf Schüler mit Interesse an diesen Schwerpunkten wirken sollen. Diese Schulen suchen sich die besten Schüler aus. Und fördern sie. Und produzieren die besten Testwerte. Und bekommen das meiste Geld. In Deutschland werden solche Modelle immer mal wieder in die Diskussion geworfen, in Philadelphia kann man die Folgen am lebenden – und manchmal eben sterbenden – Objekt beobachten.Auch eine Ursache der KriseDas Testunwesen verstärkt lediglich die Polarisierungen, die ohnehin vorhanden sind: In den USA ist das Schulwesen den Kommunen zugeordnet. Reiche Kommunen – das sind Kommunen mit einer reichen Einwohnerschaft – können mehr Geld für ihre Schulen ausgeben. Wenn man in einer schlechten Gegend wohnt, muss man spätestens dann umziehen, wenn die Kinder in die Schule kommen, sonst verbaut man ihnen ihre schulisch vorgezeichneten Lebenschancen. Dieses Problem war übrigens mitverantwortlich für die Immobilienkrise: Die aufstiegsorientierten Mittelschichten wollen, dass ihre Kinder an gute Schulen kommen. Deshalb müssen sie in bessere Gegenden mit besseren Schulen ziehen. Da der Zuzugsdruck auf diese Gegenden somit sehr hoch ist, steigen die Preise – und die Leute müssen sich verschulden, um trotzdem dorthin ziehen zu können.Die Alternative sind Privatschulen. Sie sind meist sehr teuer und unterliegen nur sehr geringen staatlichen Restriktionen. Sie können Lehrer mit besonderen Berufen oder Erfahrungen einstellen und unterliegen auch nicht dem Testunwesen. Sie bezahlen – im Gegensatz zu deutschen Privatschulen – ihre Lehrer meist besser. Und sie scheinen – wiederum im Gegensatz zu Deutschland – auch besser zu sein als viele öffentliche Schulen.Margot Honeckers TraumDie Kultusministerkonferenz hat für Deutschland die Teilnahme an allen möglichen Tests bis zum Jahr 2017 vorgeplant. Der Potsdamer Mathematikdidaktiker Thomas Jahnke sagt dazu: „Von solchen Planungszeiträumen hätte Margot Honecker nur träumen können.“ Der Bund und die Länder investieren dutzende Millionen in die Päppelung der Testindustrie, die die Standardisierung von Bildung überwacht und Lehrer und Schüler an die Kandare nehmen soll.Was ich im Paradies der Standardisierer sehe, ist eine Polarisierung des Schulwesens. Ich sehe, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten keine Chance bekommen, zu Bildung zu gelangen. Ich sehe, dass den Lehrern nicht geholfen wird, sondern dass sie lediglich ununterbrochen überwacht werden. Und ich sehe, dass ich meinen Gürtel abnehmen muss und mich abtasten lassen muss, wenn ich eine Schule im Paradies der Standards betreten möchte.