Albrecht Müller, SPD-Wahlkämpfer für Willy Brandt und Planungschef im Kanzleramt, über „Meinungsmache“, den Niedergang der Sozialdemokraten und ungebrochenen Optimismus
Der Freitag: Herr Müller, Ihrer Meinung nach hat die Bundesrepublik ein Problem – „Meinungsmache“. Glauben Sie wirklich, dass Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen?
Albrecht Müller:
Wer über viel Geld und publizistische Macht verfügt, kann die Meinungsbildung und damit auch die politische Entscheidungsfindung weitgehend bestimmen. So erzählen uns die maßgeblichen Meinungsführer in Wirtschaft, Politik und Medien, wir lebten in einem Verteilungsstaat – was bedeuten soll, dass den „Kleinen“ zu viel gegeben wird. Wir lachen sie nicht dafür aus, obschon der Anteil der hohen Einkommen und Vermögen in den letzten Jahren immer weiter gewachsen ist. Die Meinungsmache mit dem Begriff „
Einkommen und Vermögen in den letzten Jahren immer weiter gewachsen ist. Die Meinungsmache mit dem Begriff „Verteilungsstaat“ hat Konsequenzen: Die Mehrwertsteuer wurde um drei Punkte erhöht und wird vermutlich nach der Wahl noch einmal erhöht, die Unternehmenssteuern wurden gesenkt. Tatsächlich müssten wir immer noch das Ziel verfolgen, die Einkommen zugunsten der Schwächeren umzuverteilen. Stattdessen führt man zum Beispiel ein Elterngeld ein, das für Besserverdienende 1.800 Euro pro Monat und Kind und für Niedriglöhner nur 300 Euro bringt. Als die SPD 1975 die Kindersteuerfreibeträge zugunsten eines gleichen Kindergelds für alle abgeschafft hat, galt noch: Jedes Kind muss dem Staat gleichviel wert sein.Da wird mancher Ihnen entgegen halten, eine Gesellschaft müsse sich eben besonders um die Leistungsträger kümmern.Ist die Frau, die bei Aldi an der Kasse sitzt, keine Leistungsträgerin? Wer definiert denn das? Herr Westerwelle und Herr Merz? Ist der Rechtsanwalt, der für irgendwelche Heuschrecken-Hedgefonds Verträge ausarbeitet und dafür Unsummen kassiert, Leistungsträger? Oder die Investmentbanker, die uns fast in den Orkus gebracht haben? Nein, Leistungsträger sind Ingenieure, Monteure, Sozialarbeiter, Lehrer, von mir aus auch Kaufleute – aber jene, die die Straße kehren, gehören auch dazu.Seit der Finanzkrise geißeln alle Parteien deregulierte Märkte und fordern eine Eindämmung der Spekulation. Kommt Ihre Kritik nicht etwas zu spät?Dass die Finanzkrise zur Besinnung führt, wäre zu wünschen gewesen. Dass man die Deregulierung des Finanzmarktes rückgängig macht, den Verbriefungsmarkt eindämmt, die Zulassung von Hedgefonds zurücknimmt, eigentlich selbstverständlich. Aber es geschieht fast nichts. Nicht einmal die 2002 eingeführte Steuerbefreiung der Gewinne, die beim Verkauf von Unternehmen und Aktienpaketen erzielt werden, hat man gestrichen. Tatsächlich wurden und werden viele der betroffenen Unternehmen an Investoren verkauft, die sich nur so nennen. In Wahrheit haben sie oftmals den Betrieben astronomische Schulden, Zinsen und Beratungshonorare aufgebürdet, haben sie in die Insolvenz getrieben, gefleddert oder verkauft. Schon als Franz Müntefering 2005 über die „Heuschrecken“ schimpfte, fragte ich mich: Wo bleibt denn jetzt die Tat? Er hätte das damals mit Gerhard Schröder und heute mit Angela Merkel umsetzen können.Von den infolge der Krise angeschobenen Konjunkturpaketen halten Sie nichts?Die sind zu halbherzig, zu klein und zögerlich.Und die Abwrackprämie?Ist eine einseitige Förderung eines Sektors. Außerdem ist bekannt, dass wir hinterher in ein tiefes Loch fallen. Nein, man hätte insgesamt die Konjunktur viel massiver anschieben müssen.Wenn das alles Wahrheiten sind, die mal Common Sense in der deutschen Politik waren, wie sind die dann verloren gegangen?Meinungsmache eben! Die ideologisch eingefärbte Hauptlinie von heute, dass Privatisierung, Deregulierung und sinkende Löhne gut seien – diese Position ist nur durchzuhalten, wenn es viele gibt, die sie stützen, auch in der Wissenschaft und in den Medien. Und das hat man so gemacht.Wer ist man?Da ist die Bertelsmann Stiftung, die von den Metallarbeitgebern finanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und diverse andere Vorfeldorganisationen von Wirtschaft und rechtskonservativer Politik. Die Profiteure des neoliberalen Umbaus haben immer mehr Einfluss gewonnen. Die Bertelsmann Stiftung hat über weite Strecken das Hochschulwesen bestimmt, ohne dafür gewählt worden zu sein – in einer Mischung aus freundlichem Angebot, Beratung und Lobbyismus. Man hat Hochschulfreiheitsgesetze verabschiedet – typisches Beispiel ist Nordrhein-Westfalen – die von den Bertelsmann-Lobbyisten vorformuliert worden sind. Heute hat dort die Wirtschaft das Sagen über die aus Steuergeldern bezahlten Hochschulen.Früher hieß es: Enteignet Springer. Sie sagen heute: Entflechtet Bertelsmann! Wie soll das gehen?Das geht vermutlich nicht, weil Bertelsmann mächtig ist. Aber dennoch muss man die Bedrohung thematisieren. Das Kernanliegen des Artikel 5 des Grundgesetzes, wonach Meinungspluralität möglich sein soll, wird nicht mehr ernstgenommen. Natürlich gibt es in den Medien noch kritische Kolleginnen und Kollegen. Aber alle dominanten Politiksendungen im Fernsehen – und Bild sowieso – werden beherrscht von diesem Geflecht aus Politik und Lobbyismus.Wenn es so ist, dass Stiftungen aus der Privatwirtschaft einen gehörigen Teil der politischen Entscheidungsfindung vorkauen – sind die Volksparteien dann nicht schon am Ende?Sie dürfen nicht am Ende sein. Es ist für die Qualität der Entscheidungen wichtig, dass möglichst viele Menschen mit ihrer Alltagserfahrung und ihrem Sachverstand für die politische Willensbildung mobilisiert werden.Warum sind Sie nicht – wie so viele aus der SPD und den Gewerkschaften – zur Linken übergewechselt?Ich kann niemandem verdenken, wenn er aus Enttäuschung über die SPD die Linkspartei unterstützt. Aber die Linke alleine schafft keine Mehrheit. Wer eine Alternative zu Merkels rechtskonservativer Koalition will, was in einer Demokratie selbstverständlich sein sollte, ist auf die SPD angewiesen. Ich könnte Ihnen aus dem Stand zehn Empfehlungen aufschreiben, was die SPD tun müsste, um das Wahlergebnis zu verbessern.Zum Beispiel?Aufhören damit, die Linke zu verteufeln, denn das schmälert das gemeinsame Potenzial. Oder ein konjunkturpolitisches Umdenken! Und mehr Pluralität in der Parteiführung. Eine Volkspartei kommt heute nur dann an vierzig Prozent heran, wenn sie sich breit aufstellt – da müssen konservative und progressive Leute dabei sein. Aber die SPD-Führung scheint so eingemauert in ihrem Bunker, dass dort niemand merkt, was der Partei gut täte.Die SPD geht also sehenden Auges den Weg in den Umfragekeller?Ja. Und die haben auch keine Ahnung von Wahlkämpfen. „Die Siebziger waren goldene Jahre“, heißt es in Ihrem neuen Buch ...… ich belege das auch ...… und zu ihren Lesungen und Veranstaltungen kommen überwiegend ältere Menschen. Sind Sie ein Nostalgiker?Ich versuche, für eine möglichst breite Zielgruppe zu schreiben, für Menschen, die ein Defizit beim Erkennen ökonomischer Zusammenhänge verspüren und sich von anderen Medien manipuliert fühlen. Darunter mögen viele Ältere sein, aber von den E-Mails, die mich als Autor und Herausgeber der NachDenkSeiten erreichen, weiß ich, wie viele junge Menschen diese Aufklärungsarbeit schätzen. Richtig ist: Die Älteren vertreten heute oft die radikaleren Positionen. Warum das so ist, erklärt sich leicht. Wer seinen Berufsweg noch vor sich hat, tut sich angesichts der Arbeitsmarktlage schwer, radikal zu kritisieren. Also müssen wir Älteren dies übernehmen.Abgesänge auf den politischen Mainstream scheinen Ihre Spezialität zu sein – können Sie nicht mal ein positives Buch schreiben?Insgesamt bin ich doch positiv gestimmt: Ich sage, wir haben kein demografisches Problem, der Generationenvertrag trägt, wir könnten die Wirtschaft ankurbeln, wenn wir wollten, wir könnten sie gerechter gestalten, wenn wir für Gerechtigkeit wieder eine Meinungsführerschaft erkämpften. Wir könnten die Menschen optimistischer stimmen, wenn wir ihnen bessere Zukunftsperspektiven eröffnen würden. Was die Gestaltungsmöglichkeiten angeht, bin ich ein Optimist.Das Gespräch führte Christoph Twickel