In Hamburg zieht eine soziale Unruhe herauf, wie es sie seit den Kämpfen um die Rote Flora nicht mehr gab. Stein des Anstoßes ist eine neue Phase der Gentrifizierung
Verlassene Fluchten, versprengte Passanten, gähnende Leere hinter modernen Glasfronten – im Schatten von Astra-Turm und Empire Riverside Hotel, die steil über St. Pauli aufragen, hat sich die beunruhigende Zukunftsvision von der „wachsenden Stadt“ Hamburg schon materialisiert.
Doch während das „Brau-Quartier“ auf dem Gelände der früheren Bavaria noch ohne viel Aufhebens hochgezogen wurde, zieht jetzt in Teilen Hamburgs eine soziale Unruhe herauf, wie es sie seit den Kämpfen um Hafenstraße und Rote Flora nicht mehr gegeben hat. Stein des Anstoßes ist eine neue, verschärfte Phase der so genannten Gentrification – in der die Stadt Hamburg ein entscheidender Akteur ist.
Lange stand der 1964 von der Soziologin Ruth G
Soziologin Ruth Glass geprägte Begriff vor allem für einen Prozess, in dem ein alternativ-autonomes Milieu vernachlässigten Innenstadtteilen zu neuem Leben verhalf und dadurch Investoren anlockte. Die schoben dann mit Modernisierungen, Neubauten und Mietsteigerungen eine Veränderung an, in der eine kaufkräftigere Klientel zunehmend die bisherige Bevölkerung verdrängte. Die Stadtforscher Loretta Lees, Tom Slater und Elvin Wyly sehen nun eine neue Phase der Gentrification im Gange – „die Speerspitze der neoliberalen Stadtentwicklung“: Um im globalen Standortwettbewerb zu bestehen und Kapital anzuziehen, müssen die Metropolen sich ein spektakuläres Image verschaffen – und ordnen dafür ganze Stadträume neu.Etwa St. Pauli. Der immer schon ein wenig anarchische Stadtteil war die letzte Lücke einer neuen Hafenfront aus Investorenarchitektur, die sich bis zum Elbstrand von Övelgönne zieht. Die Skyline aus Atlantic-Haus, Astra-Turm und dem 21-stöckigen Empire Riverside hat sie zum Teil geschlossen. Doch dabei soll es nicht bleiben.Hundert Meter vom Riverside droht der nächste Einschlag. Bisher ist das hier ein entspanntes Stück St. Pauli gewesen. Eine Bauwagensiedlung hat sich hier niedergelassen. Washington-Bar, Onkel Otto und Kogge sind Nachtasyl für die, die mit dem neuen Reeperbahn-Getöse nichts am Hut haben, der legendäre Golden Pudel Club liegt um die Ecke. Seit kurzem ist noch etwas hinzugekommen: Dreieckige gelbe Wimpel mit dem Schriftzug „No BNQ“ hängen in zahlreichen Fenstern. BNQ steht für Bernhard-Nocht-Quartier.Brisante ProtokollauszügeIm April waren brisante Protokollauszüge aus einer Verhandlung von Bezirkspolitikern mit dem Investor Köhler von Bargen durchgesickert. Der will auf einem Drittel des Blocks hochklassige Appartements für die Leistungsträger bauen, auf die Hamburg so erpicht ist. Die Altbauten auf dem teils leeren Areal sollen entkernt werden. „Eine Rückkehr der Bestandsmieter ... kann nur erfolgen, falls diese neue Mietverträge abschließen“, hieß es in dem Protokoll und: „Daher besteht kein Rückkehranspruch und es werden keine öffentlichen Mittel für einen Sozialplan bereitgestellt.“ Rasch gründete sich die Anwohnerinitiative „No BNQ“ und macht nun mobil gegen das nächste Facelifting des Bezirks.Köhler von Bargen will den bisherigen Bewohnern den Plan damit schmackhaft machen, „dass an den Häusern nun endlich etwas getan wird“. Dazu hatte das Immobilienunternehmen aber bereits zwei Jahre Zeit, seit es das Areal 2007 von dem Spekulanten Burim Osmani für 4,4 Millionen Euro gekauft hatte – der es seinerseits 2004 für 1,9 Millionen Euro erwarb, ohne danach einen Finger zu rühren. Anwohner berichten, dass sie zum Teil seit neun Jahren auf den Einbau einer Heizung warten. Der Eigentümer der benachbarten Häuser nutzte die frohe Kunde von der bevorstehenden Aufwertung gleich, um eine gesetzwidrige Mietverdopplung zu versuchen.„Das BNQ ist kein Einzelfall auf St. Pauli“, sagt Steffen Jörg von der GWA St. Pauli, einer Sozialeinrichtung, die sich seit 1975 um das Viertel zwischen Reeperbahn und Hafen kümmert. Längst haben die Neuvermietungen auf St. Pauli das Niveau der Edelstadtteile Blankenese und Nienstedten erreicht. Auch die städtische Wohnungsbaugesellschaft SAGA mischt im Verdrängungsprozess mit: Sie reißt alte Häuser ab und baut frei finanzierte Wohnungen, die sich die alten Bewohner nicht mehr leisten können – erst recht nicht Hartz-IV-Empfänger. Steffen Jörg hat mit den Filmemachern Irene Bude und Olaf Sobczak den Dokumentarfilm Empire St. Pauli produziert, der seit einigen Monaten in Hamburg Furore macht und auch denjenigen die Augen öffnet, die mit dem Begriff Gentrification nichts verbinden. „Die Leute raus, Mieten hoch, bumm – der ganz normale Kapitalismus“, sagt ein Anwohner im Film. Das sitzt. Das begreift jeder.Auf St. Pauli ist dieser Prozess deshalb so auffällig, weil er mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit vonstatten geht. Dabei ist die Veränderung hier nur ein Symptom einer größeren Entwicklung. Noch 1993 gab es in Hamburg gut 211.000 Sozialwohnungen – inzwischen sind es nur noch knapp 110.000, und in den nächsten sieben Jahren wird ein Drittel davon aus der Sozialbindung fallen. Dem standen im vergangenen Jahr Pläne für den Bau von 1.134 neuen Sozialwohnungen gegenüber. Gab die Hansestadt im Jahr 2000 noch 12,12 Millionen Euro für soziale Stadtentwicklung in Sanierungsgebieten aus, sind es heute nur noch 7,5 Millionen.Das Geld wird woanders gebraucht: für das bereits 1983 vom damaligen Bürgermeister Klaus von Dohnanyi vorgedachte Konzept der „wachsenden Stadt“, das inzwischen Leitbild der Stadtentwicklung geworden ist. Das Prestigeprojekt Elbphilharmonie, das der Logik der internationalen Metropolenkonkurrenz gehorcht, kostet die Stadt inzwischen mindestens 300 Millionen Euro. Weitere 180 Millionen Euro investiert sie in den „Sprung über die Elbe“, mit der Wilhelmsburg, bislang ein Hinterhof der Hansestadt, modernisiert werden soll. Dorthin soll die freie Kulturszene umgetopft werden, die in der nach Westen erweiterten neuen Downtown um St. Pauli herum keine Rendite verspricht. Als eigentliche kulturelle Attraktionen sieht das Konzept die unvermeidlichen Musicals, aber auch Sportgroßveranstaltungen – und allen Ernstes die Bambi-Verleihung.Während Hamburg die Massenunterhaltung vorantreibt, schrumpfen die bezahlbaren Räume für eine Kultur jenseits des Mainstreams massiv. Die von inzwischen 150 Kulturarbeitern umgenutzte Kaufhausruine Frappant in Altona soll 2010 einem IKEA-Komplex weichen. „Hamburg hat schon genug Konsumrennbahnen“, ärgert sich Dodo Adden, Sprecher der Künstlergemeinschaft SKAM, die sich dort niedergelassen hat. „Die Gesellschaft braucht Kultur, und Kultur und Kreativität brauchen freie Räume“, sagt Adden.Einen ersten Warnschuss gab es vor zwei Wochen, als die Initiative „Komm in die Gänge“ mit 200 Künstlern das historische „Gängeviertel“ besetzte. Es ist der letzte Rest der alten Arbeiterviertel, die sich im 19. Jahrhundert westlich der Innenstadt vom Hafen Richtung Alster erstreckten. Die meisten der alten Backsteinbauten verfallen seit Jahren, und sollen vom niederländischen Investor Hanzevast „saniert“ werden. Als erste Gerüchte durchsickerten, dass Hanzevast aufgrund der Krise klamm ist, fackelte die Initiative nicht lange – und erwischte mit der als Kunstausstellung getarnten Besetzung die Stadt auf dem falschen Fuß. Unterstützt wurde sie von dem inzwischen international gefeierten Künstler Daniel Richter, der die Hamburger Kulturpolitik als „abgeschmackt“ bezeichnete und damit die Stadt aufschreckte: Sie verkniff sich zur Abwechslung jenes Polizeiaufgebot, mit dem sie sonst auf kritische Regungen reagiert. Stattdessen zeigte sie sich verhandlungsbereit.In Zukunft wird sie wohl noch mehr zu tun haben. Denn der Assoziation aus kritischen Gruppen, die derzeit entsteht, geht es nicht mehr nur darum, die schlimmsten Auswüchse der neoliberalen Stadtentwicklung zu beseitigen. Sie will weitergehen. „Wir fordern ein Recht auf Stadt“, sagt Christoph Schäfer vom Aktionsnetzwerk gegen Gentrification Es regnet Kaviar und knüpft damit an den französischen Soziologen Henri Lefebvre an. „Die Stadt ist unsere Fabrik. Der Kampf um urbane Räume ist deshalb ein Kampf um unsere Produktionsgrundlagen.“Die Machtfrage gestelltZu einem Gegenentwurf zum allgegenwärtigen Konsumspektakel hat sich das Centro Sociale, eine sich selbst tragende Sozialgenossenschaft in St. Pauli Nord, entwickelt. Es bietet etwas, was in den umliegenden Vierteln zur Rarität geworden ist: einen freien, nichtkommerziellen Raum, der von den Stadtteilbewohnern für eigene Vorhaben genutzt werden kann. 150 Genossenschafter zählt „das Centro“ inzwischen. Als dort im Juni die Aktionstage „Recht auf Stadt“ stattfanden, herrschte eine regelrechte Aufbruchstimmung, den Dingen nicht mehr ihren – vermeintlich unvermeidbaren – Lauf zu lassen. Doch auch das Centro Sociale steckt nur ein Jahr nach seiner Gründung im Überlebenskampf: In einem fragwürdigen Nutzungswettbewerb spekuliert die Finanzbehörde als Eigentümerin des Gebäudes darauf, die Sozialgenossenschaft durch einen potenteren Mieter ersetzen zu können.Auch hier zeigt sich, dass ein Recht auf Stadt solange nicht durchsetzbar ist, wie das Eigentum an Grund und Boden keinerlei Schranken unterworfen ist. „Langfristig gibt es nur eine Verteidigung gegen Gentrification: die Dekommodifizierung von Wohnraum“, schrieben die Stadtforscher Neil Smith und Peter Williams 1986. „Das durch eine Reihe von Reformen zu erreichen, ist natürlich unwahrscheinlich; dazu ist vielmehr eine politische Umstrukturierung nötig, die drastischer ist alle bisherigen sozialen und geografischen Umstrukturierungen.“Auch wenn es bis dahin ein sehr weiter Weg ist, die soziale Unruhe an der Elbe nimmt zu. Eine St. Paulianerin formulierte es auf der Pressekonferenz von "No BNQ" so: „Wir lassen uns nicht mehr mit Runden Tischen abspeisen. Wir stellen hier die Machtfrage. Die Stadt gehört allen.“