Bis vor kurzem galt München noch als Mekka für Ärzte und Patienten: hohe Versorgungsdichte, vergleichsweise gute Qualität. Das zog immer mehr Mediziner aus ländlichen Gebieten und Ostdeutschland in den Ballungsraum, bis dem mit der neuen Honorarordnung für Ärzte zumindest ein kleiner Riegel vorgeschoben wurde. Dass am Wochenende ausgerechnet in München 20.000 Ärzte und Patienten auf die Straße gingen, um verbalradikal gegen die „Industrialisierung der medizinischen Versorgung“ und die weitere „Kommerzialisierung des Gesundheitssystems“ zu protestieren, ist umso bemerkenswerter, als Arztverbände und Patientenorganisationen einer privaten Initiative der Buchautorin Renate Hartwig folgten. Nicht nur fürchten b
Politik : Ein Quantum Kleinkrieg
Die Politik will Wettbewerb im Gesundheitswesen. Dagegen protestieren Ärzte und Patienten gemeinsam. Sie fürchten die weitere Kommerzialisierung. Mit Recht
n bayerische Fachärzte, ihr Einkommensniveau nicht halten zu können, mehr noch sehen sie sich bedroht von einer Konzentrationsbewegung namens Medizinisches Versorgungszentrum. Dahinter verbergen sich kapitalstarke Gesellschaften wie die Rhön AG, die überall Kliniken und Arztpraxen aufkauft.Was sich momentan im deutschen Gesundheitssystem abspielt, erinnert an frühkapitalistische Akkumulationsereignisse, die sich weitgehend unbemerkt vollziehen und immer nur dann Sensationsspitzen markieren, wenn etwa ein Korruptionsverdacht auf die nach wie vor bestens angesehene Berufsgruppe der Ärzte fällt. Ökonomisch gesehen sind ambulant praktizierende Ärzte Kleinunternehmer. Sie spielen, pardon, in einer Liga mit den Bauern aus Lüchow-Dannenberg, die gegen fallende Milchpreise und Atomkraft protestieren.Im Unterschied zu den Kollegen in der Landwirtschaft hat ein Arzt dank eines kaum mehr überblickbaren Paragrafengestrüpps, das zwölf (!) Gesundheitsreformen seit 1989 hinterlassen haben, aber Möglichkeiten, sich innerhalb des Systems Nischen und Schlupflöcher zu suchen und den politisch gewollten Wettbewerb mit mehr oder minder legalen Methoden für sich zu entscheiden. Was das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung für die Kassen war und was clevere Pharmafirmen mit dem Arzneiversorgungswirtschaftlichkeitsgesetz für sich zu nutzen wussten, ist das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung für Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte. Und man muss sich schon ein wenig auf die Materie einlassen, um zu verstehen, warum gerade wieder einmal ein gesundheitspolitischer Korruptionsskandal – „Fang- und Kopfprämien“ für die Zuweisung von Patienten in Kliniken, zweifelhafte Versorgungsverträge zwischen Fachärzten und Krankenhäusern oder schlichter Abrechnungsbetrug – die Republik umtreibt.Das Stichwort in diesem Zusammenhang lautet „integrierte Versorgung“, das heißt die Aufweichung von stationärer und ambulanter Medizinleistung. Dafür gab es gute Gründe, denn warum sollte beispielsweise ein chirurgisch versierter niedergelassener Arzt mit einem Krankenhaus nicht einen Vertrag abschließen, um Patienten schonend, zeitsparend, nicht-stationär und kostengünstig zu operieren? Warum sollte ein Kliniker, der die Krankengeschichte eines Patienten kennt, nicht nachbehandeln dürfen? Für den Patienten kann das Vorteile haben, für die Kassen ebenfalls.Das Problem beginnt dann, wenn die Ressourcen knapp, der Bedarf groß und zwei bislang völlig abgeschottete Finanzströme – die Mittel der Kliniken und die den Kassenärztlichen Vereinigungen zugewiesenen Honorare für die Ärzte – plötzlich in Verbindungskanäle fließen und beide Systeme beginnen, miteinander zu konkurrieren. Unter Bedingungen, wo es manchmal um die nackte Existenz geht. Kluge Unternehmer setzen auf Kooperation. Dann könnte der niedergelassene Arzt auf die Idee kommen zu sagen, wenn ich einer bestimmten Klinik ein bestimmtes Quantum „Patientengut“ (so die aufschlussreiche Fachsprache) überweise, will ich dafür eine Prämie sehen. Oder die Klinik kommt auf den Arzt zu und beide denken über lukrative Zusammenarbeit nach.Weil es aber (noch) etwas anderes ist, ob ein Zulieferer dem Autokonzern Sitzausstattungen anbietet und Boni für den Vertragsabschluss in Aussicht stellt oder ein Arzt gezielt „Patientenströme“ in eine Klinik lenkt, um sich daran zu bereichern oder eben nur, um zu überleben, kocht die Volksseele hoch. Interessensvertretungen versuchen, die Akteure zurückzupfeifen, weil das Image auf dem Spiel steht. Und sehr viel Geld: Die Gesundheitsausgaben hierzulande betrugen 2006 das 2,4-Fache des Inlandsumsatzes der deutschen Automobilindustrie. In der Gesundheitsbranche arbeiten 5,7 Mal so viel Beschäftigte wie in der Lieblingsindustrie der Deutschen.Noch sind viele Patienten also prämienträchtig. Es könnte aber eine Zeit kommen, wo man auf bestimmte Patientengruppen „Abwrackprämien“ auszuloben beginnt. Zumal die von den Reformen in Gang gesetzten Rationalisierungsmaßnahmen in den Kliniken noch gar nicht real gegriffen haben, wie der Gesundheitswissenschaftler Bernard Braun in einer Studie berichtet. Aufschlussreich ist vor allem seine Feststellung, dass sich das ärztliche Selbstverständnis den Ökonomisierungsvorgaben schon angepasst hat und der ärztliche Kodex auf der Strecke bleiben könnte.Man sollte frühere Zeiten nicht idealisieren, das Gesundheitswesen war von jeher ein viel kritisierter „Selbstbedienungsladen“ und Missbrauch hatte systemische Gründe. Aber so wie der Landwirt das Gedeihen seiner Tiere im Auge haben mochte, so waren Ärzte gemeinhin auf das Wohl ihrer Patienten orientiert. Wenn dieses Berufsethos dem unternehmerischen Kalkül unterliegen sollte, haben es letzterem verpflichtete Gesundheitspolitiker bald einfacher, einen 245-Milliarden-Markt auszuverkaufen. Mittels so oder so verstandener „Kopfprämien“.