Die verfassungsmäßige Rolle der Abgeordneten im Bundestag verfällt. Viele Politiker verlassen deshalb den Reichstag. Manch einer blickt ernüchtert zurück.
Norbert Lammert ist für seinen trockenen Humor bekannt. Gerade hat der Abgeordnete Rainder Steenblock seine letzte Rede im Bundestag gehalten. Kollegen aus der Parlamentsfabrik umringen den Grünen für ein paar nette Worte zum Abschied. Diether Dehm von der Linken setzt sogar zu einer fraktionsübergreifenden Umarmung an. „Ich hoffe, dass ich jetzt nicht wegen der Prozessionszüge zu Ihnen die Sitzung unterbrechen muss“, mahnt der Bundestagspräsident den Abgeordneten Steenblock ein allerletztes Mal. Dann sagt auch noch der Mann von der CDU etwas Nettes und die Debatte über die Begleitgesetze zum Lissabon-Vertrag kann weitergehen.
Was sich da Ende August im Bundestag abspielte, war keine Ausnahme. Über 100 Abgeordnete kehren dem Parlament den
ament den Rücken – darunter Politpromis wie Hans Eichel und weniger bekannte Fachleute wie der CDU-Finanzpolitiker Otto Bernhardt. Vor allem bei der SPD ist die Abgangsliste lang: Herta Däubler-Gmelin, Walter Riester, Renate Schmidt, Kurt Bodewig – allesamt Ex-Minister; dazu frühere Staatssekretäre wie Karl Diller, Marion Caspers-Merck und Alfred Hartenbach. Auch den roten Pulli eines Ludwig Stiegler wird man künftig im Parlament nicht mehr antreffen. Bei der CDU sind es 35 Abgänge, darunter Friedrich Merz. Bei FDP und Grünen gehen je sieben Abgeordnete.Der Exodus ist einerseits Teil eines normalen Generationswechsels in der Politik. Mancher sieht in der parteiübergreifenden Rotation aber auch einen Beleg für die „Betriebsunzufriedenheit“, wie es Willy Wimmer nennt. Neun Legislaturperioden hat er für die CDU im Bundestag gesessen und dabei immer mal wieder quer zur Linie seiner Fraktion gelegen. Das hat ihm Ärger eingebracht. Die im Grundgesetz beschriebenen „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ – sie sind eine Seltenheit geworden. Und das liegt nicht nur am Personal, sondern an den Strukturen.Schnell unten durchZwischen verfassungsmäßigem Unabhängigkeitsanspruch und der von Parteiinteressen geprägten politischen Praxis klafft nicht erst seit gestern ein großer Graben. Man kennt die Geschichte der FDP-Abgeordneten Hildegard Hamm-Brücher, die sich Anfang der achtziger Jahre gegen ihre Fraktion gestellt hatte – und dafür mit „liberalem Strafvollzug“, wie sie es selbst nannte, kaltgestellt wurde: keinen Ausschuss-Sitz mehr, keine Redezeit. „Wer häufig gegen die Mehrheit stimmt“, gab vor zwei Jahren der junge SPD-Abgeordnete Marco Bülow zu Protokoll, „ist bei der Fraktionsspitze schnell unten durch“. Vor wichtigen Abstimmungen würden „Abweichler unter Druck gesetzt und zum Beispiel zu Einzelgesprächen ins Büro von Peter Struck, unserem Fraktionsvorsitzenden, zitiert“. Nun geht auch Struck. Aber das es unter seinem Nachfolger anders wird, steht nicht zu erwarten.Dem freien Mandat sind Grenzen gesetzt, das ist bekannt und hat teils gute Gründe, schließlich wirken die Parteien an der „politischen Willensbildung“ mit, wie es in der Verfassung heißt. Doch der Spielraum für einzelne Mitglieder des Bundestags scheint immer enger zu werden.„Jeder Abgeordnete, der neu ins Parlament kommt, steckt voller Idealismus“, hat der CSU-Politiker Peter Gauweiler unlängst gesagt. Doch dann sei die „schnell einer Art Verzwergung durch ein politisches Kleinmachsystem ausgesetzt“. Aus einem Abgeordnetenparlament, klagt Gauweiler, sei längst ein Fraktionsparlament geworden, ein politischer Betrieb, in dem Apparate das Sagen haben, über Karrieren entscheiden, Spezialisierungen festlegen.Natürlich geschieht das immer im „Gesamtinteresse“ – das kann mal das der Partei sein und mal mit dem einer Regierung zusammenfallen. Und wenn diese dann, wie es in den vergangenen Jahren immer öfter geschehen ist, Politik in Expertenkommissionen abgibt oder von Beratungsfirmen vorbereiten lässt, bleibt den Abgeordneten der Koalitionsparteien oft nur das Abnicken. Notfalls werden Sachentscheidungen zu Vertrauensfragen hochgespielt, wird mit Basta gedroht und gegen Dissidenten „Politik per Reisekostenantrag“ gemacht, wie es einer der nun aus dem Bundestag Ausscheidenden nennt.Wo die Rolle des Abgeordneten „degeneriert“, wie Willy Wimmer kritisiert, verliert das Parlament auch seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Der Linkspartei-Abgeordnete Hakki Keskin, der schon nach zwei Jahren, mitten in der Legislatur, für sich entschieden hat, nicht noch einmal zu kandidieren, hat darauf hingewiesen: Die Regierungskoalitionen stimmen aus Parteidisziplin den Regierungsanträgen zu – und die Opposition, kann dem als Minderheit wenig entgegensetzen. Etliche Untersuchungsausschüsse und die geringe Auskunftsbereitschaft der Ministerien haben das beispielhaft gezeigt.„Wir sollten uns immer vor Augen führen: Der Bundestag ist das Hohe Haus, nicht das Kanzleramt“, hat Rainder Steenblock bei seiner letzten Rede im Plenum gesagt. Es ging in dieser Diskussion nicht nur um Europapolitik, sondern in einem ganz generellen Sinne um die Rechte des Parlaments, um seine Funktion als „Volksvertretung“. Über das Ungleichgewicht von Abgeordnetenmandat und Parteimacht wurde kaum diskutiert. Auch nicht über den Alltag einer rasenden Parlamentsfabrik, die viel befördert, aber nicht die Autonomie von Abgeordneten. Über 600 Gesetze wurden in den vergangenen vier Jahren beschlossen, mehr als 1.600 Rechtsverornungen erlassen – komplizierte Sachfragen, Entscheidungen mit großer Tragweite, administratives Kleinwerk. Wer kann da als einzelner Parlamentarier den Überblick bewahren?Vor drei Jahren ermittelte eine Studie der Fachhochschule Mainz, dass die Abgeordneten pro Gesetzesinitiative im Durchschnitt gerade einmal sechseinhalb Stunden Zeit für eine nähere Beschäftigung mit einer Vorlage haben. „Das reiche zwar aus, um Mehrheiten dafür oder dagegen zu organisieren und Zusatzanträge zuzulassen, häufig aber nicht, um das Gesetz wirklich zu verstehen“, schreiben die Wissenschaftler. In einer anderen Untersuchung wurden fast 1.000 Parlamentarier unter anderem zu ihren Arbeitsbedingungen befragt. Das Ergebnis: 56 Prozent gaben an, dass zu wenig Zeit sei, um über Probleme einmal genauer nachzudenken. Aber nur 20 Prozent sahen die Kluft zwischen den eigenen Vorstellungen und dem, was sie als Abgeordnete vertreten müssten, als Problem an.Listenaufstellung streichenPeter Gauweiler fordert, über die Rolle des Abgeordneten nicht immer nur zu reden, sondern endlich für eine wirksame Stärkung ihrer Eigenständigkeit zu sorgen. So könnte nach Meinung des CSU-Politikers etwa die Listenaufstellung durch die Parteien neu geregelt oder „am besten komplett gestrichen“ werden. Gauweiler glaubt, dass man so verhindern kann, dass sich Abgeordnete im eigenen „Überlebensinteresse“ allzu schnell der Linie jener Organisation unterordnen, die über den Fortgang ihrer Karriere entscheidet. Willy Wimmer hat eine Enquetekommission des Bundestags ins Spiel gebracht, die sich in der kommenden Legislatur mit der „tatsächlichen Rolle“ der Abgeordneten beschäftigen soll.Weniger „Parteivertreter“, mehr „Volksvertreter“ – womöglich würde dann auch beim „Souverän“ das Ansehen der Parlamentarier wieder steigen. Es kann eigentlich nur besser werden. Politiker sind so schlecht beleumundet wie nie zuvor.Rainder Steenblock hält das für kein gerechtes Urteil. Er habe, sagt der Grüne in seiner letzten Rede, in all den Jahren im Bundestag „jeden Tag gemerkt, dass das Zerrbild, das die Medien von den Abgeordneten und ihrer Tätigkeit häufig zeichnen, so nicht stimmt“. Aber liegt das Volk, das sich vertreten lässt, wirklich so falsch?Laut einer Allensbach-Umfrage haben nur sechs Prozent der Deutschen Achtung vor Politikern. Anfang der siebziger Jahre waren es noch 27 Prozent.