Erstmals geöffnet hatte der Freitag-Salon an diesem 16. Oktober im Berliner Ballhaus Ost. Thema: Quo vadis – eine kleine Zukunftswerkstatt. Drei Wochen nach der Wahl und 20 Jahre nach dem Wende-Herbst in der DDR soll der Bogen geschlagen werden, von damaligen Eruptionen im Osten zu heutigen des Westens, wie sie die Finanzkrise und anderes bescheren. Dass dieser Anspruch etwas groß geraten sein könnte, räumt Freitag-Verleger und Moderator Jakob Augstein gleich zu Beginn ein. Eingeladen hat er die Schriftstellerin und Freitag-Herausgeberin Daniela Dahn, den Historiker Paul Nolte, Christoph Schwennicke, Reporter des Spiegel, und Anne Tismer, Schauspielerin, Aktionskünstlerin und Mitbegründerin des Ballhauses Ost. Dazu gibt es Theater-Interieur, ein niedrige
Politik : Enge des Konsensraumes
Ein Freitag-Forum hatte in Berlin seine Premiere. Man diskutierte über den Wahlkampf, Entpolitisierung und Afghanistan-Krieg, Links und Rechts, Ost und West
Von
Marcus Engler
terieur, ein niedriges Podest, viel rotes Tuch, gedämpftes Licht.Im Keim erstickt Augstein eröffnet mit der Frage, ob wir in einem „versöhnten Land“ leben. Diesen Eindruck habe so mancher im Wahlkampf gewonnen. Anne Tismer räumte ein, den nicht über Gebühr intensiv verfolgt zu haben und berichtet über die Schwierigkeiten, junge Togolesen zu einem Theaterfestival nach Deutschland einzuladen.Daniela Dahn will nichts von Versöhnung wissen: Davon könne kaum sprechen, wer sich die große Partei der Nichtwähler anschaue. Die wirklichen Themen – Krise, Klima, Krieg – habe der Wahlkampf weitgehend ausgeblendet. Sei dieser Hang zum Konsens, wie er sich vor der Bundestagswahl gezeigt habe, ein zivilisatorischer Fortschritt, will Augstein vom Historiker Nolte wissen. Der empfand zwar den Wahlkampf als angenehm, vermisst aber gleich Dahn wirklich neue Themensetzungen. Dem schwarz-gelben Bündnis prognostiziert er ein Scheitern, sollten die Koalitionäre nicht mehr vorhaben, als die Konzepte von 1982 zu recyceln. Die Deutschen würden sich offenbar mit einer „Routine der Demokratie“ schwer tun. Als Historiker traue er ihnen „nicht über den Weg, man müsse auf der Hut sein“. Spiegel-Reporter Schwennicke spricht von eine „eingelullten Land“, wofür Frau Merkel verantwortlich sei, die hätte jeden Streit im Keim erstickt, „über alle Wogen Öl gegossen“. Augstein will wissen, ob dies ein Ausdruck von Entpolitisierung sei? Kontroversen wie einst zwischen Kohl und Brandt, gäbe es nicht mehr. Nolte weist das zurück, warnt vor perspektivischen Verzerrungen und romantisierter Vergangenheit. Wahlbeteiligung sei nicht der einzige Indikator für politische Kultur. Man halte sich eben in einem „engen Konsensraum“ auf, in dem auch die Grünen zu finden seien. Es gäbe keinen fundamentalen Dissens mehr. Die Linke, von der sich Nolte wünscht, dass sie bald verschwindet, sei immerhin ein „kreativer Prozess“.Ob Marx oder Gott In Erinnerung des Lebens in der DDR meint Daniela Dahn: „Wahlen haben wir vermisst, aber Wahlkämpfe nicht.“ Auf diese Spektakel könne sie gern verzichten. Hätte sie in den Parteien etwas zu sagen, gäbe es keine Wahlplakate mehr. Nichts als Belästigung und Umweltverschmutzung seien die. Auch Schwennicke sieht keine Entpolitisierung, sondern eine „Rückkehr von links und rechts“, ist sich dann aber nicht mehr so sicher. Frau Merkel weise der CDU den „Dritten Weg“. Ist das rechts? Was das linke Lager angeht, halten Schwennicke und Nolte einen Zusammenschluss von Linker und SPD in den nächsten 20 Jahren für nicht unwahrscheinlich.Jetzt endlich wird der Konsens-Raum auf dem Podium etwas enger. Noltes Plädoyer für mehr Freiheit, hält Dahn die Zahlen des Armutsberichts entgegen. Wer unter Existenzangst leide, der habe nicht viel Freiheit. Dass sich die soziale Schere weiter öffnet, bestreitet niemand im Ballhaus, nur hält es Nolte für gefährlich, die Freiheit klein zu reden. Auch Schwennicke ist irritiert. Und plötzlich geht es nicht mehr um links und rechts, sondern um Ost und West. Nolte, Schwennicke und Augstein sind alle in den sechziger Jahren geboren – jetzt also in ihren Vierzigern – und in der alten Bundesrepublik aufgewachsen. Trotz aller politischer Differenzen scheinen sich die drei Männer nicht allzu fern. Sie teilen einen besonderen Raum des Konsenses, deren Wurzeln die Grünen sind. Nolte ist Anhänger von Schwarz-Grün, Schwennicke wohl von Rot-Grün, Augstein von Rot-Rot-Grün. Auch Frau Tismer gehört zur gleichen Generation und ist Grünen-Wählerin. Wirklich überraschend ist das nicht, denn die Grünen betraten die politische Landeschaft der BRD, als die sechziger Jahrgänge erwachsen wurden.Daniela Dahn, eine Generation weiter als die anderen, macht aus ihrer Nähe zur Linkspartei kein Hehl. Die Autorin zitiert Feuerbach, Brecht und Jurek Becker, beklagt die Rente mit 67 als Rentenkürzung, spricht sich für einen Abzug aus Afghanistan aus. Eine Mehrheit der Deutschen weiß sie – glaubt man den Demografen – hinter sich. Eine Mehrheit, die es im Bundestag nicht gibt. Offenbar, so Dahn, habe man es inzwischen mit einer Parteioligarchie zu tun. Das geht Nolte und Schwennicke zu weit – ein merkwürdiges Demokratieverständnis sei das. Geld für die Rückkehr zur Rente mit 65 gäbe es nicht – man müsste das den Menschen nur offen sagen.Gibt es in diesem Land wirklich kein Geld? Die Verteilungsdebatte möchte auf dem Podium dann aber doch keiner anzetteln. Nur Daniela Dahn legt nach: der Kapitalismus zerstöre den Globus. Prompt platzt es aus Augstein und Schwennicke heraus: „Die Umweltverschmutzung war bei denen doch sehr viel schlimmer als bei uns“. Nun hat der Konsens ausgesorgt. Der Vergleich DDR/BRD scheint heute wohl deswegen wieder von Interesse zu sein, weil der deregulierte Kapitalismus in den vergangenen Monaten viel von seinem Glanz verloren hat. Wie ihn aber bändigen? Nolte sieht im Erstarken des Religiösen eine letzte Chance, die Gesellschaft sozial zu kitten.Aus dem Publikum meldet sich der Pfarrer und Freitag-Blogger Christian Berlin und möchte festgehalten wissen: Umverteilung sei notwendig. Ob dies im Namen von Karl Marx oder von Gott erfolge, sei für ihn unerheblich.Dann ist Schluss, bis zum nächsten Salon am 4. Dezember an gleicher Stelle. Das Thema: Das schwarz-gelbe Regierungsprojekt.