Puritaner und Moralisten bezeichnen den Konsumismus, die Bonus-Kultur, die Erwerbsgesellschaft, die Jetzt-leben-später-zahlen-Philosophie oft als „Gier“. Doch haben diese – wie andere Laster auch – durch einen Wandel unserer moralischen Ordnung einen neuen Stellenwert erhalten. Vieles, was man in der Vergangenheit als menschliche Schwäche empfand, gilt heute als ökonomische Tugend. Habgier ist zu Ehrgeiz geworden, Neid erscheint als Manifestation eines gesunden Wettbewerbsgeistes, Unersättlichkeit ist bloß ein natürliches Streben nach mehr. Lust gilt als notwendiger Ausdruck unserer tiefsten menschlichen Realität. Versuchung ist kein Impuls mehr, dem es zu widerstehen gilt: Es ist unsere Pflicht, uns ihr zu ergeben. Im Namen des er
Politik : Zügellos, unersättlich, gierig
Der Mensch wird gegenüber der Natur immer rücksichtsloser, weil er stoisch an der Marktwirtschaft festhält. Das muss sich ändern – oder unsere Überlebenschancen sinken
Von
Jeremy Seabrook, The Guardian
The Guardian
erhabensten aller Zwecke: Dem Verbrauchervertrauen. Denn die kapitalistische Ideologie besteht nicht mehr nur als abstrakte Theorie, sondern wird in jedem Objekt unserer Begierde dinglich. Zugleich birgt dieser bunte Überfluss der Güter ein ganzes moralisches Universum.Der gefallene MenschWenn in primitiveren Zeitaltern als negativ betrachtete Eigenschaften inzwischen als Tugenden erscheinen, fällt uns die Überzeugung leicht, dass sie die Natur des Menschen repräsentieren. Somit ist uns quasi gestattet, unmäßig, zügellos und gierig zu sein. Die Moral des ökonomischen Wachstums dringt in die Psyche ein. Dort regiert sie nun als ultimative Offenbarung dessen, was Menschsein heute bedeutet.Der Erfolg der industrialisierten Gesellschaft hängt entscheidend von dieser düsteren Sicht auf die Wirklichkeit ab. „Die menschliche Natur kann man nicht ändern“, lautet Artikel I der kapitalistischen Glaubenssätze. Eine schwermütige Anerkennung des Umstandes, dass der Mensch „seinem Wesen nach“ selbstsüchtig, ja, unabänderlich „gefallen“ sei.Wenn der erste Glaubenssatz des Kapitalismus in der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur besteht, dann besteht der zweite in der Annahme, die übrige Natur, damit auch das Klima, könne immer weiter unterworfen werden. Die Natur an sich gilt als endlos formbar, kann zu jedem der „Menschheit“ vorschwebenden Zweck genutzt und gestaltet werden. Ganze Kontinente lassen sich unterjochen, ganze Wälder roden, Wasserläufe umleiten, Meere überfischen und ganze Fischarten ausrotten – bis die Erde ausgelaugt ist, bis die menschliche Natur triumphieren kann und als unbezwingbar erscheint.Die ikonografische Wucht der kapitalistischen Warenwelt und die Umwandlung von Lastern zu Tugenden lassen keinen Raum für andere, im Schatten stehende Visionen einer besseren Welt. Wenn die westliche Weltsicht sich gegen alle anderen durchgesetzt hat, dann ist dies nicht so sehr ihrer Wahrheit, als vielmehr ihrer physischen Stärke zuzuschreiben.Zurückhaltung und MäßigungEs ist nicht zu leugnen, dass die Menschen schon immer nach Besitztümern verlangt haben, die ihnen Bollwerk gegen die existentielle Trostlosigkeit sein sollten, sie suchten nach Illusionen gegen die Unendlichkeit. Die Grabmäler weit zurückliegender geschichtlicher Epochen sind überhäuft mit kostbaren Objekten, die den Dahingeschiedenen auch noch im Jenseits zugute kommen sollten. Es wurde eben nie ernsthaft daran geglaubt, dass sich vollkommene Glückseligkeit in diesem kurzen Leben erreichen ließe. Noch nicht einmal von denen, die den totalen Glauben an das Streben nach dem Glück bekundeten.Die Religion hat immer die Notwendigkeit von Zurückhaltung und Mäßigung sowie die Unmöglichkeit von Transzendenz in dieser Welt gelehrt. Die Ideologie des grenzenlosen Wachstums stellt dies freilich auf den Kopf: Sie überträgt eine jenseitige Kosmologie in einen augenscheinlich säkularen Kontext. Statt Glück im Jenseits zu versprechen, bietet sie eine glückliche Ewigkeit im Hier und Jetzt. Die Erfüllung dieser Doktrin ist aber um einiges unmöglicher, als dies bei den Dogmen jedes religiösen Glaubens der Fall ist. Denn während nicht zu beweisen ist, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, ist offensichtlich: Nach dem ewigen Glück in einem von Unsicherheit, Schmerz und Verlust beschränkten Leben zu streben, erweist sich als vergebliches Bemühen. Daher kommt nicht zufällig ein großer Teil des Widerstands gegen den Kapitalismus aus religiöser Richtung. Priester, Prediger und Imame sind sich sehr wohl dessen bewusst, dass es ihr Territorium ist, auf dem da herumgetrampelt wird.Umkehrung der IdeologieDie Überzeugung, dass wir uns die Natur zu eigen machen sollen, die menschliche Natur aber für Veränderungen nicht zugänglich ist, hat unmittelbar zu mehreren globalen Krisen geführt – zum Klimawandel, der wachsenden Ungleichheit und – zwar weniger wahrgenommen, vielleicht aber noch bedeutsamer – zu einem um sich greifenden morbiden Verlangen nach dem Unerreichbaren. Es hat inzwischen Anerkennung gefunden, dass die Störung der Biosphäre und die Sucht nach Fortschritt direkt zum Klimawandel geführt haben. Auch wenn es nicht widerstandslos hingenommen und die Verantwortung einer mumaßlich unveränderlichen menschlichen Natur für diesen traurigen Zustand anerkannt wird.Wer die Bedrohung der Natur und des Klimas durch die Globalisierung auflösen will, der verlangt genau genommen eine Umkehrung der Ideologie: Der verlangt das genaue Gegenteil eines mit zynischer Selbstverständlichkeit daher kommenden Fatalismus, der die Natur des Menschen als unabänderlich betrachtet. Denn dieser Fatalismus hat zu Immobilität, vor allem aber zu einem Gefühl der Ohnmacht im Umgang mit schwindenden natürlichen Ressourcen geführt.Die heimlichen Tresore Deshalb ist es so überaus dringend, sich mit dieser Mär von der menschlichen Natur als dem einzigen Fixpunkt im ständigen Wogen des fieberhaften Wandels und Wachstums zu befassen. Die menschliche Natur entspricht nicht dem Bild, das die selbst referentiellen Propheten der ökonomischen Ideologie von ihr gezeichnet haben. Sie versuchen, die Menschen soweit zu bringen, sich auf eine gewisse Art und Weise zu verhalten und die Folgen ihres Tun dann als Offenbarung oder Entäußerung der menschlichen Natur zu begreifenWenn es keinen öffentlichen Raum für andere Attribute des Menschseins gibt, wird dies unvermeidlich unsere Fähigkeit zu Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft und Güte verdrängen. Wir wissen, dass diese Werte existieren: Nur sind sie ausgeschlossene, überaus geächtete Gäste eines tristen ökonomischen Banketts, auf dem man sich mit den philanthropischen Restkrumen zu begnügen hat. Rücksichtslos, egozentrisch, individualistisch, selbstherrlich – wenn diese Eigenschaften in unserem ökonomischen Dasein doch belohnt werden, wer wollte Letztere dann nicht kultivieren und menschliche Tugenden verbannen? Wer wollte sie nicht in die heimlichen Tresore des Privatlebens schließen in die sie gesperrt werden, weil sie das ökonomische Spiel verderben?„Wir müssen die Natur verändern, aber wir können nicht die menschliche Natur ändern,“ lautet der Ruf jener, die das herrschende ungerechte Paradigma aufrecht erhalten wollen. Sogar um die bescheidenen Anliegen der britischen Umweltkampagne Zehn zu Zehn effektiv umsetzen zu können, werden andere menschliche Möglichkeiten aus dem Gemeinschaftsgrab alternativer Ideen gehoben werden müssen. Darunter ein neu erwachter menschlicher Einfallsreichtum, Kreativität und Flexibilität. Allein diese Eigenschaften werden unser unseliges Zerstörungswerk des Planeten aufhalten und wenigstens mildern können.Radikale FragenVielleicht gibt es für die Reichen andere Arten des Wohlstandes und für die Armen andere Wege aus der Armut als all jene, die uns bekannt sind. Doch sie werden blockiert von der stoischen Überzeugung, dass die Disziplinen der Marktwirtschaft – Zerstörung der Natur und Unveränderlichkeit unserer menschlichen Natur – noch immer als einziger Pfad erscheinen, unsere sehnlichsten Träume zu verwirklichen und schlimmsten Albträume zu verhindern.Es wird inzwischen allgemein anerkannt, dass die Ausbeutung der Natur beendet werden muss. Vor dem Kopenhagener Klima-Gipfel häufen sich verständlicherweise die Appelle. Doch wenn wir uns nicht der Ursprünge dieses räuberischen Verhaltens annehmen, werden unsere Überlebenschancen mit jedem Tag kleiner. Radikale Fragen stellen sich. Nicht zuletzt die, warum es so schwierig geworden ist, zwischen der Natur des Industrialismus und der Industrialisierung unserer eigenen Natur zu unterscheiden.Übersetzung: Zilla Hofman