Karlsruhe dreht dem Einzelhandel sonntags den Saft ab. Ein wichtiger Sieg über die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche oder einfach weltfremd? Der Freitag streitet
Das Verfassungsgericht hat entschieden: Der gottlose Hauptstadt-Senat ist zu weit gegangen. Am Tage des Herrn sollst Du nicht konsumieren, predigen die Damen und Herren in roten Roben von der Karlsruher Kanzel herab und bestätigten damit den Verfassungsrang des dritten Gebots – „Du sollst den Sabbat heiligen“.
Für viele muss diese Entscheidung wie Hohn klingen. Es ist ja nicht so, als stünden Sonntags in Deutschland alle Räder still. Die Krankenschwester verteilt weiter Medizin an ihre Patienten, der Koch rührt weiter seine Suppe um und auch Züge fahren wie an allen anderen Tagen von A nach B. Wer in diesen und vielen anderen Berufen tätig ist, für den ist es normal, dass der Sonntag ein Tag wie jeder andere auch ist. Warum sollte es
uch ist. Warum sollte es da für den Einzelhandel eine Ausnahme geben? Ist der Sonntag der Verkäuferin etwa heiliger als der der Krankenschwester?Die Frage stellt sich zumindest für die Kirchen nicht. Ein Erfolg sei das Urteil, sagt zum Beispiel Katrin Göring-Eckardt, Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland und Bundestagsvizepräsidentin der Grünen, für den „Sonntag als Ruhetag für alle“ und über „den Kommerz“ insgesamt.Ob dieser Sieg so nachhaltig ist, wird sich allerdings noch zeigen. Sicher, die arbeitende Bevölkerung muss in Zukunft ihre Waschmaschinen wieder nach dem anstrengenden Lohnerwerb im überfüllten Elektromarkt kaufen - sofern sie nicht ins Internet ausweicht, das ja auch Sonntags geöffnet hat. Doch ob der hungrige Christenmensch künftig am Tag des Herrn auf Fischstäbchen verzichten will, nur weil er dafür zur Tankstelle statt in den Supermarkt gehen muss, sei mal dahin gestellt. Dafür muss er zwar das Doppelte bezahlen, doch den Aufschlag kann man wohl guten Gewissens als produktbezogenen Ablass verstehen.Was spricht also dagegen, Geschäften zu erlauben, rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche geöffnet zu haben? Zur Erinnerung: Dieses Land hat (noch) gültige Sozialstandards. Seien es nun 38,5 oder 40 Stunden in der Woche – niemand muss sich wegen eines verkaufsoffenen Sonntags auf dem Zahnfleisch hinter die Kasse schleppen. Das ist wichtig, und damit es so bleibt, gibt es Gewerkschaften.Aber es hilft nichts, sich gegen die Entwicklung zu stemmen. Der arbeitsfreie Sonntag ist ein Anachronismus. Warum sollte die zunehmende Entgrenzung von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ausgerechnet beim Standardarbeitstag halt machen? Davor die Augen zu verschließen, hilft nicht weiter. Es müssten moderne Arbeitszeitmodelle entwickelt werden, die sicher stellen, dass die Sozialstandards auch unter sich verändernden Bedingungen noch eingehalten werden könnten. Doch diese Tür hat Karlsruhe erst einmal zugeschlagen. So schützt das Gericht womöglich unser Seelenheil, aber bereitet uns nicht auf eine Welt vor, die so sicher kommen wird wie das Amen in der Kirche. Julian HeißlerSo ein GlückPuh, Glück gehabt. Danke, Verfassungsgericht! Irgendwann wäre die Versuchung zu groß geworden. Ich kenne mich. Und ich lebe in Berlin, dem Bundesland, in dem das Ladenöffnungsgesetz so liberal ist, dass man davon fast nichts bemerkt, weil immer irgendwer offen hat. Bisher auch zehn mal im Jahr am Sonntag. Jetzt sind es noch vier Mal.Es ist herrlich, in einer Stadt zu wohnen, in der man Babybrei bis 22 Uhr und Bier, Butter und Champagner selbst um 3 Uhr nicht nur an Tankstellen bekommt. Früher wohnte ich im Erzbistum München, dessen Chef den Nachnamen eines bekannten Sozialtheoretikers trägt und wo man in der Innenstadt nach acht Uhr abends nur noch am Bahnhof einen Döner kaufen kann. Dann zog ich ins Einzugsgebiet der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die kurz danach ihrerseits gegen die Berliner Ladenöffnungszeiten vor das Verfassungsgericht zog.Seither hat sich mein Einkaufsverhalten geändert. Eigentlich kaufe ich jetzt beinahe ununterbrochen ein, rund um die Uhr. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, wenn ich von der Arbeit komme - und vor allem, wenn Frau, Tochter oder das Tier in mir in der Nacht akute Versorgunsgsbedürfnisse anmelden. Ich will es gar nicht anders. Und weil ich ehrlich bleiben möchte, bin ich zum Verfechter einer Totalliberalisierung der Nachtöffnungszeiten geworden.Dennoch: Bisher habe ich es fast immer geschafft, am Sonntag keinen Laden zu betreten. Weil ich finde, dass es mir und auch einer Gesellschaft wie der deutschen ganz gut tut an einem Tag in der Woche nicht ununterbrochen einzukaufen. In den vergangenen Wochen habe ich den Einkauf am Samstag erledigt und mich dann am Sonntag mit Frau, Tochter und Tier in mir in ein Café gesetzt. Das war schön, weil wir dabei alle vier ein bisschen ruhiger geworden sind. Und wenn ich es mir recht überlege, könnten wir bald mal diesen Freund einladen, mit dem wir schon ewig vergeblich nach einem passenden Termin fürs Abendessen suchen. Der hat nämlich am Sonntag den ganzen Tag frei. Und wenn ich ehrlich bleiben will, kann ich dagegen nichts sagen. Steffen Kraft