Das Netzwerk Wikileaks hat die geheimen Toll-Collect-Verträge der rot-grünen Bundesregierung veröffentlicht. Das ärgert die Politik – und freut den Netzbürger
Gesellschaftlich wichtige Informationen müssen frei sein – dies ist das Motto der Webseite Wikileaks. Das gerade einmal drei Jahre alte Netzwerk ist mit dem Ziel angetreten, weltweit Korruption, Verbrechen und unethisches Verhalten von Regierungen und Unternehmen zu bekämpfen, und zwar durch die anonyme Veröffentlichung geheimer Dokumente. Über Wikileaks können Whistleblower – also Insider, die Zugang zu unterdrückten Informationen haben – diese in anonymisierter Form ins Netz stellen.
Sobald die Informationen online sind, ist es selbst für staatliche Stellen faktisch unmöglich, deren Weiterverbreitung zu stoppen. Dies musste im vergangenen Jahr das Schweizer Bankhaus Julius Bär erfahren. Nachdem Wikileaks interne Dokumente der
erfahren. Nachdem Wikileaks interne Dokumente der Schweizer veröffentlichte, die illegale Steuertricks der Bank auf den Cayman Islands beweisen sollten, strengten die Anwälte von Julius Bär gerichtlich eine Sperrung der Domain wikileaks.org an. Ein Eigentor, wie sich bald zeigen sollte - um die Informationsfreiheit zu verteidigen, bildete sich eine breite Allianz aus Bürgerrechtsgruppen und Zeitungen, die unter anderem dafür sorgten, dass die Seiten durch Spiegelung weiterlebten. Elf Tage später wurde die Sperrung vom zuständigen Richter wieder aufgehoben.Während Wikileaks ursprünglich vor allem Dokumente aus Ländern mit einem ausgeklügeltem Zensurregime wie China oder Iran veröffentlichen wollte, waren es in der Vergangenheit eher die westlichen Sektionen des Netzwerkes, die für Aufsehen sorgten. So erzeugten beispielsweise die veröffentlichten Handbücher der Guantanamo-Wachen oder die höchst bedenklichen Kinderpornographie-Sperrlisten verschiedener Staaten ein weltweites Medienecho. Wie eine zentrale Sammelstelle für Geheimnisse sind inzwischen mehr als 1,2 Millionen Dokumente zusammengetragen worden. Auch in Deutschland gibt es eine sehr aktive Sektion von Wikileaks - man konnte dort bereits BKA-Dokumente oder für den internen Gebrauch bestimmte Papiere aus Parteizentralen finden.Garantierte MilliardenIn der vergangenen Woche veröffentlichte das Netzwerk 10.000 Seiten des 2002 unterschriebenen Vertragswerks zwischen dem deutschen LKW-Maut-Betreiber Toll Collect und der rot-grünen Bundesregierung. Bislang war das Material streng geheim gehalten worden. Selbst Versuche von Parlamentariern, unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz, Einblick in den Riesenkontrakt zu nehmen, scheiterten vor Gericht. Das Toll-Collect-Konsortium verwies dabei immer wieder auf technische Geschäftsgeheimnisse, die angeblich für die Sicherheit des Systems relevant seien - eine Argumentation, die von Insidern als Vorwand gesehen wird. In Wahrheit gehe es darum, so die Kritik, die geschäftlichen Details des Milliardenprojekts unter Verschluss zu halten.Das Thema ist besonders für die Politik heikel - nicht nur, weil damit ein neuerlicher Schatten auf die rot-grüne Regierungsbilanz fällt. Es geht auch um Geld und juristische Fragen: Wegen des verspäteten Starts der Lkw-Maut macht der Bund gegenüber dem Konsortium 1,6 Milliarden Euro Vertragsstrafen sowie 3,5 Milliarden Euro Einnahmeausfälle geltend. Eigentlich sollte die deutsche Lastwagen-Gebühr ab August 2003 die Staatsfinanzen sanieren. Technische Probleme auf breiter Front führten allerdings dazu, dass das System erst Anfang 2005 in Betrieb genommen werden konnte. Ob und wie viel Geld der Steuerzahler von den verantwortlichen Betreibern zurückbekommt, hängt auch von den konkreten Formulierungen in den Verträgen ab.Erste Einblicke in das schier unüberschaubare Konvolut aus Vertragsseiten und Anhängen ergaben bereits unglaubliches: Die Bundesregierung garantierte den Betreibern des Mautkonsortiums, das zu je 45 Prozent von Daimler und der Deutschen Telekom gehalten wird, Profite in Milliardenhöhe – es ist sogar von einer zugesicherten Umsatzrendite von 19 Prozent die Rede. Informationen, die vor allem die Wettbewerbshüter in Brüssel interessieren dürften, schließlich stand Toll Collect dort schon länger als Instrument zur verdeckten Technologie-Subvention unter Verdacht. Doch dies ist offenbar nur die Spitze des Eisbergs.Kollaboratives ExperimentInzwischen begeben sich nicht nur die Journalisten, sondern auch ganz normale Netzbürger an die Auswertung der umstrittenen Vereinbarung. Das ist Prinzip: Wikileaks setzt auf Schwarmintelligenz. Welche Redaktion kann es sich heute noch leisten, genügend qualifizierte Mitarbeiter für die Analyse eines 10.000 Seiten starken Vertrages abzustellen? Beim in der Szene angesehenen Weblog netzpolitik.org spricht man in diesem Zusammenhang von einem „kollaborativen Experiment“, das es in dieser Form in der Bundesrepublik noch nie gegeben habe.Whistleblower-Netzwerke sind allerdings nicht nur eine Chance, sondern können auch zu einem Risiko werden. Wenn gefälschte oder gewollt irreführende Dokumente über Seiten wie Wikileaks ihren anonymisierten Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, verhält es sich es wie mit der Büchse der Pandora: Es macht keinen Unterschied, ob eine Information wahr oder unwahr ist – ist sie erst einmal in der Welt, bekommt man sie schwerlich wieder zurück.Um dieser Gefahr zu begegnen, hat Wikileaks nicht nur sein eigenes Expertennetz, sondern verlässt sich auch auf Journalisten, um die Authentizität von Dokumenten zu bewerten. Die Toll-Collect-Verträge etwa gingen vorab zur Überprüfung an den Stern und den unter anderem auf Internetfragen spezialisierten Heise-Verlags. Und so wie die Weblogs den Journalismus auf eine breitere Basis gestellt haben, hat das „System Wikileaks“ den investigativen Journalismus revolutioniert. Wenn beide Seiten sich als echte Partner begreifen, so könnte dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein.