Und der Friedensnobelpreis 2009 geht an ... Lula.“ Diesen Satz hatten Sympathisanten und Gegner des brasilianischen Präsidenten im Oktober erwartet. Immerhin fiel die Entscheidung von Oslo genau eine Woche, nachdem Rio de Janeiro dem von Barack Obama hofierten Chicago die Olympischen Spiele 2016 weggeschnappt hatte.
Brasiliens Präsident, der von seinem US-Kollegen als „populärster Politiker auf der Erde“ bezeichnet wird, steht nach sieben Jahren Amtszeit im Zenit öffentlicher Anerkennung. Er hat seinem Land auf der Weltbühne eine neue Rolle verschafft – Brasilien ist heute sowohl unter den BRIC-Staaten (dazu gehören noch Russland, China und Indien) als auch den G20 etabliert, konnte gerade die Entdeckung riesiger Erdölvorkommen vor
ommen vor der eigenen Küste vermelden und wird 2014 die Fußball-WM ausrichten. „Brasilien war noch nie so in Mode“, schrieb unlängst die Financial Times, und habe „mit Lula endlich einen weltweit anerkannten Führer“. Und der Observer resümiert, das immer als „Land der Zukunft“ bezeichnete Brasilien sei endlich in der Gegenwart angekommen.Doch wieviele Kompromisse musste der Ex-Gewerkschafter Lula – der einmal behauptete, dass sich in Brasilien „Christus mit Judas verbünden“ müssten – eingehen, um dorthin zu kommen, wo er jetzt steht? „Niemals zuvor in der Geschichte dieses Landes“ – ein von Lula häufig gebrauchter Satz – hat Kapital so ungehindert ins Ausland abfließen können. Während unter Amtsvorgänger Henrique Cardoso zwei von zehn bei internationalen Geschäften verdienten US-Dollar wieder ins Ausland transferiert wurden, waren es unter Lula zwischen 2003 und 2006 immerhin sechs von zehn.Auch im Agrarsektor steigen unter Lula die Kennziffern, vorzugsweise bei der Produktion von genetisch manipuliertem Soja. 14 Millionen Hektar Fläche sind derzeit damit bestellt – nicht zuletzt ökologisch relevante Regionen im westbrasilianischen Mato Grosso. Das hoch gelobte „Null-Hunger-Programm“ bleibt unter den Erwartungen. Ursprünglich gedacht, um Genossenschaften und selbstverwaltete Armenküchen zu fördern, wirkt es inzwischen mehr als Sozialhilfe, die Elend lindern, aber nicht strukturell überwinden hilft.Doch wie kam es, dass Lula diesen Weg einschlug, der ihn von einstigen Partnern wie der Landlosen-Bewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) entfernte? Warum verfolgte er ihn auch dann, als er 2002 die Wahlen gewonnen hatte und niemandem mehr etwas vorspielen musste?Die bärtige Kröte Lula kam 2002 nach drei erfolglosen Anläufen mit einem klaren Ziel an die Macht: Er wollte denjenigen, die ihn des Regierens für unfähig hielten, das Gegenteil beweisen. Jahrelang war er von der Presse und einem Großteil der Bevölkerung als halber Analphabet behandelt worden, der fehlerhaftes Portugiesisch spreche und niemals in seinem Leben ein Buch gelesen habe. 1989 bezeichnete ihn der Politiker Leonel Brizola gar als „bärtige Kröte“. Brizola erklärte seine Unterstützung für Lula im Wahlkampf mit dem berühmten Satz: „Ein Politiker hat einmal gesagt, Politik sei die Kunst, Kröten zu schlucken. Wäre es nicht faszinierend, die brasilianische Elite Lula schlucken zu lassen, die bärtige Kröte?“13 Jahre später wurde Lula tatsächlich Präsident und unternahm wie eine Geisel mit Stockholm-Syndrom alles, um jener Elite, die ihn nie ernst genommen hatte, zu gefallen. Er verteidigt seine Geiselnehmer selbst nach der Flucht aus der Geiselhaft noch und regiert heute mit ihnen und für sie – anstatt mit den sozialen Bewegungen eine Regierung der Mehrheit zu bilden.Dominikanerpater Frei Betto, Lulas Sonderberater in den ersten beiden Regierungsjahren und drei Jahrzehnte lang persönlich mit ihm befreundet, berichtet in seinem Tagebuch der Macht davon, wie sich Lula jedem Dialog mit der Landlosen-Bewegung MST verweigerte. Die Tiefe des Zerwürfnisses zwischen ehemaligen Alliierten wurde Anfang 2009 beim Weltsozialforum in Belém deutlich, als die MST Lula von einem Treffen ausschloss, zu dem vier lateinamerikanische Staatschef geladen waren. Anstelle des brasilianischen Präsidenten saßen neben MST-Sprecher Joao Pedro Stedile Commandante Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Armindo Lugo (Paraguay) auf dem Podium.„Lula ist ein Verbündeter seiner selbst“, meinte ein Repräsentant der Landlosen-Bewegung, als er nach dem Grund gefragt wurde, weshalb der Präsident nicht eingeladen war, als der MST den 25. Jahrestag seiner Gründung feierte. „Er bezeichnet sich als Verbündeten der Landlosen, zugleich aber auch als Verbündeten von Großgrundbesitz und Agrarbusiness.“Die blaue Fliege2006 erschien von Frei Betto das Buch Die blaue Fliege. Reflexion über die Macht, das mit seinem Titel auf ein Gedicht von Machado de Assis anspielt und die Entfremdung zwischen der regierenden Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores/s. Kasten) und sozialen Bewegungen nach dem Amtsantritt Lulas analysiert. In Machados Gedicht verwandelt sich ein einfacher Mann durch seine Begegnung mit einer geheimnisvollen blauen Fliege in den Herrscher über ein mächtiges Reich. Er wird zu einem umschwärmten, allseits beliebten König, zum siegreichen Schlachtenkämpfer – die Illusion treibt ihn dem Wahnsinn entgegen.Frei Betto vertritt in seinem Buch die These, die PT-Führungsgruppe sei von einer blauen Fliege gestochen worden. „Die Partei wurde zu einem Instrument des Machtzugangs – auf Kosten des ursprünglichen Anliegens, das darin bestanden hatte, die Arbeiterklasse, die Marginalisierten, die Arbeitslosen zu organisieren.“ Betto schlussfolgert: „Der Stich der blauen Fliege hat der PT das Gift eingeflößt, das aus einem Nationen- ein Wahlprojekt werden ließ“. Der langjährige Freund Lulas fügt hinzu: „Gib einer Person einen Anteil an der Macht, und du wirst sehen, wer sie wirklich ist. Im Unterschied zu dem, was normalerweise behauptet wird, ändert die Macht die Menschen nicht. Sie sorgt vielmehr dafür, dass diese sich offenbaren. Die Menschen sind wie der Künstler, dem Pinsel, Farben und Leinwand fehlen, oder wie der Mörder, der kein Messer hat. Die Macht steigt einem nur in den Kopf, wenn man sie schon vorher destilliert im Herzen hatte.“„Ich habe größten Respekt für den MST, aber ab 1997 interpretierten einige Intellektuelle etwas in die Landlosenbewegung hinein. Deren These lautete in etwa: Für die Linke gebe es keinen Raum, um über Wahlen an die Macht zu kommen. Man müsse daher die Gesellschaft organisieren. In 20 oder 30 Jahren würde ein Drittel der Gesellschaft sozialistisch sein, und damit könne man dann die Macht herausfordern. Aber ich werde keine weiteren 30 Jahre mehr leben, ich will sofort an die Macht“, sagte Lula fünf Tage vor dem zweiten und entscheidenden Wahlgang Ende 2002 in dem von Joao Moreira Salles über die Wahlkampagne gedrehten Dokumentarfilm Entreatos.In diesem Film gesteht Lula unumwunden, dass er das Image als „MST-Gewalttäter“ abstreifen müsse, um Erfolg zu haben. Die Ergebnisse einer von seinem Wahlkampfleiter in Auftrag gegebenen Umfrage kommentiert er mit den Worten: „67 Prozent des Volkes hatten Angst vor meinem Image als Streikführer, 70 Prozent war gegen die gewalttätige Agrarreform, obwohl sie der Agrarreform an sich positiv gegenüber eingestellt waren“.Sem TerraSieben Jahre und eine Wiederwahl nach diesen Erklärungen hat Lula, der 1998 die Landreform „mit einem Federstrich“ per Dekret durchsetzen wollte, nicht nur das Image des MST-Sympathisanten abgestreift. Er hat sich auch vom Projekt der Landreform insgesamt verabschiedet. Stattdessen verteidigt er Großprojekte, die von sozialen Bewegungen und Umweltgruppen heftig bekämpft werden – so etwa das Wasserkraftwerk Belo Monte am Rio Xingu in Amazonien oder die Staudammprojekte am Rio Sao Francisco im trockenen Nordosten, die den Exportindustrien zugute kommen werden.Im Film Entreatos sagt Lula noch, seine Krawatte glatt streichend: „In 20 Jahren Fabrik habe ich mich nie an den Blaumann gewöhnt. Zwei Tage haben gereicht, um mich in Anzug und Krawatte wohl zu fühlen.“ Das brasilianische Sprichwort, wonach „der Kopf denkt, wohin einen die Füße tragen“, war wohl selten so stimmig wie im Fall dieses Präsidenten.