Fünf Jahre nach Hartz IV doktert die SPD an den Narben der Agenda-Politik herum. Heilung ist noch nicht in Sicht. Eine Rhetorikmaschine sichert das Überleben
Vorschläge für das Unwort des Jahres 2009 können noch bis zum 11. Januar eingereicht werden. Es geht dabei bekanntermaßen um Wendungen aus der öffentlichen Kommunikation, die besonders negativ aufgefallen sind. Ein Begriff gehört zweifelsfrei dazu - hat aber dennoch keine Chancen auf die Unwort-Ehre: Hartz IV. Entscheidend für die Auswahl sei nämlich das Verhältnis zwischen Wort und Sache, sagt Jurymitglied und Sprachwissenschaftler Horst Dieter Schlosser. Bei Hartz IV werde aber anders als bei anderen Politschöpfungen nicht die Realität verschleiert. „Es ist inzwischen so negativ besetzt bei den meisten Betroffenen, dass man nicht mehr dazu sagen muss.“
Und genau das ist das Problem der SPD. Die Partei will am liebsten gar
Und genau das ist das Problem der SPD. Die Partei will am liebsten gar nicht mehr an ihre, wie das Handelsblatt schreibt, „in Worte gekleidete Dolchstöße“ erinnert werden. Die historische Metapher steht zwar mehr als schief im Wind, meint aber etwas Unüberhörbares: Wo immer Sozialdemokraten zum Jahresbeginn in Mikrofone und Schreibblöcke sprachen, wurde rhetorisch gegen die Vergangenheit gerüstet. Die Wunde, welche die Agenda-Politik hinterlassen hat, klafft weit offen und hindert den Rekonvaleszenten beim Neuanfang.„Zuerst einmal muss der Name weg“, wird der hessische SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel zitiert, „dann müssen die Arbeitsmarktreformen nachjustiert werden.“ Das ist die sozialdemokratische Parole der Stunde. Zwar warnt Parteivize Olaf Scholz, Vertrauen entstehe „nicht durch ein neues Plakat, ein neues Design“ - aber es wird durch ein altes verhindert: Agenda 2010. Und weil dieser Kunstbegriff so negativ besetzt ist wie seine Satelliten-Wörter Hartz IV oder Rente mit 67, will man loskommen von einer sozialpolitischen Vergangenheit, die an der SPD klebt wie die sprichwörtliche Scheiße am Schuh.Im Grundsatz richtigWas tun? Die SPD meint, um des inneren Zusammenhalts und der Glaubwürdigkeit nach außen dürfe man keine 180-Grad-Wende vollziehen. Sollte die Partei nun ihr Heil darin suchen, „die Agenda über Bord“ zu werfen, „wäre das doch Wahnsinn“, warnt der alte außenpolitische Vordenker der Partei, Egon Bahr. Auch die neue Generalsekretärin Andrea Nahles meint, es helfe gar nichts, „wenn wir dem staunenden Bürger verkünden, dass die SPD plötzlich ohne weitere Begründung ihre Meinung komplett ändert“. Auch stehe für sie „außer Frage“, dass viele Bereiche der Agenda „im Grundsatz richtig und auch in der Ausführung handwerklich ordentlich“ gewesen seien.Ein wenig klingt bei dieser in der SPD weit verbreiteten Sprachregelung eine Sprechweise durch, die man von der post-realsozialistischen Periode kennt: Die Pleite ist nicht zu leugnen - aber es war ja auch nicht alles schlecht. Dieses Sowohl-als-auch bei der Historisierung der rot-grünen Regierungspolitik findet lagerübergreifend statt. Beim Dresdner Scherben-Parteitag tauchte der Begriff „Agenda 2010“ in den Reden des alten wie des neuen Vorsitzenden jeweils genau ein Mal auf: Franz Münteferings wies auf die gelungenen großen Teile der damit bezeichneten Politik hin. Und auch Gabriel erinnerte kurz daran, was „alles unter der Überschrift Agenda 2010“ stand - meint: Das war nicht nur schlechtes.Ein beträchtlicher Teil der SPD-Wähler sieht das offenbar anders. Und denen ist kein Vorwurf zu machen, dass sie irgendwelche kommunalen Investitionsprogramme bei ihrer Meinungsbildung für weniger ausschlaggebend halten, als die von der SPD durchgesetzte Armutsvermehrung. Es kann auch keine Ausrede sein, dass der Politik die „richtige Erkenntnis“ zugrunde gelegen habe, dass manche vergangene Antworten auf die Frage nach sozialstaatlicher Sicherung in Zukunft nicht mehr ausreichend sein werden. Die Agenda 2010 war eine falsche - sogar aus der formal organisationslogischen Perspektive betrachtet: Bei den Bundestagswahlen 2002 kam die Partei auf 38,5 Prozent und rettete sich knapp in die rot-grüne Verlängerung, am 14. März 2003 gab Gerhard Schröder seine berühmte Regierungserklärung ab. Heute sind die Sozialdemokraten eine 20-Prozent-Partei mit stabiler linker Zehn-Protzent-Konkurrenz.Politischer OrientierungslaufOb und wie sich daran noch einmal etwas ändern könnte, darüber lässt sich zurzeit wenig sagen. Über die Richtung des Neuanfangs weiß die sozialdemokratische Spitze noch wenig. Wenn jetzt das basisdemokratische Element den politischen Orientierungslauf der SPD kennzeichnen soll, dann lässt sich das leicht als taktische Übung abwerten. Ebenso einfach ist es, zu sagen, die Sozialdemokraten müssten sich konsequenter von den Gesichtern der Vergangenheit trennen, sonst bleibe die Partei ein Agenda-Gespenst. Eine andere Politik wird aber daraus auch nicht automatisch. Neue Namen für die erste Reihe sind ebenso wenig in Sicht wie eine aktive, die Chance zur Gestaltung von unten ergreifende Basis, die aus der politischen Anästhesie erwacht, in der sie jahrelang durch Basta-Politik gehalten wurde.Und so bleibt der Spitze um Nahles und Gabriel derzeit die trostlose Aufgabe, eine kranke Partei mit markigen Worten am Leben zu halten, auf dass einmal bessere Zeiten anbrechen. Gabriel ruft eine „Bürgerbewegung“ gegen die schwarz-gelbe Sparpolitik ins Leben; Nahles fordert, „die ganze Partei“ durchzuspülen: „Die Verkalkungen müssen weg.“ Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit will „eine Sprachfähigkeit zu vielen Gruppen“ entwickeln. Oder man kündigt an „heiße Eisen“ anzupacken und „Gräben zuzuschütten“. Es sind dies politische Leerformeln, die eine sozialdemokratische Erneuerung allenfalls ankündigen. Mehr als weiße Salbe auf die offenen Wunden der Agenda-Politik ist es noch nicht.