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Politik : Protektorat Haiti

Sollte der schwer heimgesuchte Karibikstaat seine Souveränität befristet aufgeben und sich Schutzmächten wie der internationalen Gemeinschaft oder den USA unterwerfen?

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Die Vereinten Nationen, christliche und staatliche Hilfswerke, Regierungen und Unternehmen, Medien und Missionen waren seit Jahrzehnten in Haiti damit beschäftigt, einem moribunden Patienten den Puls zu fühlen. Sie registrierten erfreut jedes noch so schwache Lebenszeichen und glaubten sich darin bestätigt, einen lebensmüden Staat am Zügel der Wohltätigkeit über die Zeit zu bringen, so gut es eben ging. Sie waren schließlich Helfer, keine Erlöser.

Und Somalia?

Seit dem 12. Januar 2010 sollten sie sich eingestehen, die Mühe war umsonst, die Anstrengung zu dosiert, das Interesse zu eigensüchtig – die Hilfe zu wenig hilfreich. Der Patient hat sich vorerst verabschiedet. Ob und wie er wiederbelebt werden kann, ist eine Sache von Jahren – ob der Staat Haiti überhaupt wiederbelebt werden soll, eine offene Frage. Sind gescheiterte, verlorene oder schlichtweg lebensunfähige Staaten nicht mit einem Dasein als Protektorat besser bedient? Nicht zuletzt zum Vorteil ihrer Bevölkerung? Und wenn Haiti diesen Weg einschlagen wollte, wäre es dann nicht in einer komfortablen Lage, wenn sich die USA als Schutzmacht regelrecht aufdrängen? Deren Aufwand wirkt gewaltig, mit einem Flugzeugträger, mit einer Luftbrücke, mit zwei ehemaligen Präsidenten und einem Korps von 12.000 Soldaten. Bei einem „failed state“ wie Somalia, den der Fluch der Unregierbarkeit seit Jahrzehnten trifft und der bei einer Naturkatastrophe vermutlich ebenfalls hilflos wäre, dürfte eine solche Vehemenz ausbleiben. Nach ihrem gescheiterten Kommando bei der Mission UNOSOM (1992 - 1994) werden sich die USA am Horn von Afrika kaum zu einem solchen Kraftakt durchringen wie derzeit in der Karibik vor der eigenen Haustür.

Doch wäre es leichtfertig und ahistorisch, ein Protektorat Haiti ins Gespräch zu bringen, ohne im gleichen Atemzug zu fragen, weshalb die viel beschworene internationale Gemeinschaft jede Gelegenheit verstreichen ließ, um den „gescheiterten Staat“ Haiti von sich selbst zu erlösen und einen Neuanfang zu verschaffen, der nichts anders sein konnte, ja musste als ein wirkliches Nation Building. Eine Chance bot sich, als im Februar 1986 Jean-Claude Duvalier – 1971 als Nachfolger seines Vaters, des Diktators Francois Duvalier, ins Amt bugsiert –, gestürzt wurde, aber eine neue Regierung nichts tat, um wirklich etwas zu ändern. Sie bot sich erneut, als 1990 ein Prediger aus der Kirche St. Jean-Bosco in Port-au-Prince Ausweglosigkeit und Depression die Stirn bot und zu einem Hoffnungsträger aufstieg, der Hunderttausende elektrisierte. Das Volk Haitis wählte den Befreiungstheologen und Salesianer-Priester Jean-Bertrand Aristides 1990 zu seinem Präsidenten. Und das mit der überwältigenden Mehrheit von 75 Prozent. Nach der Amtsübernahme durch Aristide im Februar 1991 verging kein Jahr, bis die alten Eliten um General Cédras zurückschlugen, einen Putsch inszenierten und den aus ihrer Sicht missratenen Staatschef ins Exil trieben.

Keine Wende

Als die Vereinten Nationen im Juli 1994 nach langem Zögern einer begrenzten Militärintervention zustimmten, um eine Rückkehr Aristides zu ermöglichen, übernahmen die USA das Kommando. Doch sie agierten ohne erkennbaren Enthusiasmus, eher getrieben von einer anschwellenden Flut haitianischer Flüchtlinge, die in den Vereinigten Staaten Asyl suchten. 70.000 wurden damals abgefangen und im Lager Guantánamo interniert. Als Jean-Bertrand Aristide seine 1991 unterbrochene Präsidentschaft im Schatten von 20.000 US-Soldaten wie einen verlorenen Faden wieder aufnahm, war der Zauber des Wandels verflogen, der Hoffnungsträger zum Patriarchen geschrumpft. Aristide konnte den Teufelskreis von Anarchie, gewaltsüchtigem Aufruhr und Selbstjustiz nicht durchbrechen, sondern wurde Teil desselben. Bis er – moralisch schwer diskreditiert – im Februar 2004 im Schutz seiner Privatmiliz ins Ausland floh. Vertrieben, verhasst und beschämt. Haiti blieb anderer politischer Seelsorge überlassen, die jedoch zusehends auf die Vereinten Nationen mit ihrer Mission MINUSTAH übergehen sollte.

Statt eine historischen Wende zu erleben, wie sie 1990/91 mit Aristide möglich schien, hatte Haiti nicht viel mehr getan als einen weiteren Schritt von der Armut in die Misere, von der Not zum Elend, vom labilen zum fragilen Staat, von der Hilfsbedürftigkeit zur Hilflosigkeit. Da erscheint so etwas wie die jetzt naheliegede staatliche Selbstaufgabe fast logisch, man könnte auch sagen: von der Nachbarschaft herausgefordert oder erwünscht.

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