Die Einstellung zur Arbeit ändert sich. Viele machen im Job nur noch das Nötigste. Doch neue Macht bekommen Arbeiter*innen erst dann, wenn sie kollektiv streiken – wie bei Apple, Amazon und Starbucks
Statt sich auf die neuen Herausforderungen für die bevorstehende Wirtschaftskrise einzustellen, drohen die Gewerkschaften den Wandel zu verschlafen
Debatte
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Der Klassenkampf der deutschen Arbeitgeber
Immer dreister attackieren Unternehmer und ihre Verbände Tarifverträge, Betriebsräte und damit ein zentrales Prinzip des Grundgesetzes – sie gefährden die Demokratie
Der demokratische Rechts- und Sozialstaat lebt von Voraussetzungen, die der Kapitalismus nicht schafft. Dass der Staat demokratisch verfasst ist, haben die Arbeitgeber als Klasse hingenommen. Den Rechtsstaat respektieren Teile der ökonomischen Elite immer weniger, wie die Skandale um Dieselmotoren, Cum-Ex-Geschäfte oder Wirecard zeigen. Die schlechtesten Nachrichten betreffen den Sozialstaat. Genauer: seinen Grundpfeiler, die Arbeit.
Einige aktuelle Zahlen: 2021 arbeiteten so wenige Beschäftigte wie nie seit Beginn der statistischen Berechnung unter dem Schutz von Betriebs- und Personalräten. In Westdeutschland waren es 1996 immerhin 51 Prozent, 2021 ist der Anteil auf 39 Prozent gefallen. Im Osten der Republik konnten 1996 noch 43 Prozent der Arbeitenden auf die Mitbest
ie Mitbestimmung bauen, 2021 waren es nur etwas mehr als ein Drittel.Dramatischer ist der Rückgang bei Einkünften und Arbeitsbedingungen, die durch Tarifverträge gesichert werden. Von Flächentarifverträgen profitierten 1996 noch 70 Prozent der in West- und 68 Prozent der in Ostdeutschland Beschäftigten. 2021 sind davon zwischen Kiel und Konstanz 45, zwischen Rügen und Riesa 34 Prozent übrig. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss nehmen, was die Firma so bietet. Noch dreister: Eine wachsende Zahl von Großunternehmen bricht die Mitbestimmungsgesetze. Die Hans-Böckler-Stiftung geht von 2,1 Millionen Beschäftigten aus, denen ihr gesetzliches Recht vorenthalten wird, Belegschaftsmitglieder und Vertreter ihrer Gewerkschaften in den Aufsichtsrat zu wählen. Die Rede ist nicht von kleinen Buden. Sondern von namhaften Unternehmen wie der Meyer Werft, Fleisch-Tönnies, dem Entsorger Alba oder Vonovia.Was die Verfassung vorsiehtDas ist keine zufällige Entwicklung. Die Abkehr von der demokratischen und sozialen Ordnung der Arbeit kommt einer machtvollen Bewegung gleich, in der Unternehmer, Geschäftsführer und Vorstände, Anwälte und Berater ganz konkrete Entscheidungen treffen. Etwa die, gegen die Gründung von Betriebsräten vorzugehen oder – wie im Fall des Stanzformspezialisten Stafotec in Rheinhessen – als Reaktion auf einen erstreikten Tarifvertrag den Betrieb zu schließen.Die Arbeitgeberverbände, von der Verfassung mit dem Auftrag versehen, mit den Gewerkschaften die „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ zu fördern, betreiben ihre Selbstauflösung. In einigen Branchen, etwa bei Nahrungsmitteln, haben sie sich schon aufgelöst. Der an Mitgliedern mächtigste Verband Gesamtmetall arbeitet an seiner Verwandlung vom Sozialpartner in einen Abwehrverband gegen den Sozialstaat. Inzwischen organisiert er mehr als 4.100 Betriebe, Tendenz steigend, die sein Hauptprodukt, den Flächentarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie, ausdrücklich ablehnen. Keine 3.300 Betriebe mehr im Verband, Tendenz fallend, stützen noch den Flächentarif.Für immer mehr Arbeitende endet so die Demokratie am Werkstor, und es beginnt für Millionen die Zone von Niedriglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen, von Ausbeutung und vielfach von Not.Jetzt, da die Preise mit Raten von acht, bald wohl neun oder mehr Prozent im Jahr steigen, werden es viele Beschäftigte ohne Gewerkschaft im Rücken nicht im Ansatz schaffen, den Verlust von Kaufkraft auszugleichen. Sie werden ärmer werden oder weiter verarmen.Geld für rechte NetzwerkeIm Bewusstsein der Bevölkerung ist der Sozialstaat als Wohlstandsversprechen tief verankert. Wenn nun Millionen in die Not gedrängt werden, wird offenbar, wie schwach dieser Sozialstaat ist, ausgehöhlt von einer übergroßen Mehrheit von Arbeitgebern, die aus ihm aus- oder gar nicht erst beigetreten sind.Dieser Sozialstaat ist aber keine Randnotiz unserer Verfassung. Er ist in dem für die Ewigkeit geltenden Artikel 20 des Grundgesetzes mit der Demokratie und dem Rechtsstaat „zu einer Einheit verbunden“, formulierte der Staatsrechtler Wolfgang Abendroth. Das heißt: Wird eine der drei Grundlagen unserer staatlichen Ordnung ausgehöhlt oder zur Farce, leiden auch Demokratie und Rechtsstaat.Alte und neue Habenichtse haben das verstanden. Sie wenden sich von den ökonomischen und politischen Eliten ab, fühlen sich sozial und kulturell deklassiert, der Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen erscheint ihnen – wenn sie dies je erwägen – zu aufwendig, sie gehen kaum noch wählen. So nimmt, ausgehend von einer ökonomischen und demokratischen Misere der Vielen, die Demokratie Schaden. Nicht wenige Arbeitgeber finanzieren rechte Netzwerke, sie mögen das zum Ziel haben. Andere, die achselzuckend beim Verfall mittun, werden zu Mittätern.Der demokratische Rechts- und Sozialstaat lebt von Voraussetzungen, die der Kapitalismus zerstört. Seine soziale Ordnung muss ihm aufgeherrscht werden. Die für die Not ihrer Beschäftigten blinde Haltung der Arbeitgeber in der aktuellen Metall-Tarifrunde ist dafür die beste Begründung.