Guido Westerwelle ist es gelungen, im Alleingang die politische Konfliktlage zuzuspitzen. Der FDP-Vorsitzende hat sich nicht gescheut, zwei Stränge offen miteinander zu verbinden: sein Steuersenkungsprojekt und die Hartz-IV-Sätze; sollten von der Regierung selbst eingesetzte Sachverständige zu dem Schluss kommen, dass die Sätze erhöht werden müssen, um dem Gerichtsurteil Genüge zu tun, würde er sich querlegen aus Angst, die steuerliche „Entlastung der Bürger“ zu gefährden. Um dies zu begründen, redet er sich um Kopf und Kragen. Er scheint den Satz illustrieren zu wollen, den Marx irgendwo fallen lässt, dass „es nie die originellsten Geister sind, welche die absurden Konsequenzen ziehn“.
Westerwelles Einlassu
s Einlassungen kreisen um zwei fixe Ideen, die der „Leistung“ und die des „Sozialismus“, und wie wir sehen werden, stellen sie faktisch eine Verbindung zur Debatte über das Grundeinkommen her. Nicht leistungsgerecht sei es, wenn Hartz-IV-Empfänger mehr Geld bekämen als Lohnabhängige. Das ist wohl wahr. Aber Westerwelle zieht die eigenartige Konsequenz, dass der Fehler dann bei der Höhe von Hartz IV und nicht bei der Lohnhöhe liegt.Man muss sich hier erinnern, dass die gegenwärtige öffentliche Debatte nur die Frage zu beantworten sucht, ob die Hartz IV-Sätze hoch genug sind, um die soziale und kulturelle Subsistenz zu sichern. Sollten sie für diesen Zweck erhöht werden müssen und sollten sie dann über noch mehr Löhnen liegen als heute, dann würde das ja nur unterstreichen, dass diese Löhne keine Subsistenzlöhne sind. Da Westerwelle, statt daran zu rütteln, die Diskussion zur Umsetzung des Gerichtsurteils kritisiert, offenbart er sein Verständnis der Parole „Leistung muss sich lohnen“: Leistung darf sich ruhig unterhalb des Subsistenzlohns „lohnen“, wohl weil die Unterbezahlten sich dann immer noch stolz sagen können, sie hätten die paar Pfennige durch eigene Arbeit erworben. Vom Staat sollen sie sich nichts „schenken“ lassen, sie sind ja keine Hoteliers.Wie Marx den Arbeitslohn definiert hatDie FDP fordert ein „Bürgergeld“. Jetzt sieht man, wie das gemeint ist: Das „Bürgergeld“ soll nicht die jetzigen niedrigen Löhne übertreffen, und diese sollen nicht steigen. Denn wenn sie das täten, könnte es ja auch steigen und würde sie immer noch nicht übertreffen. Nach Westerwelle soll aber nicht einmal die heutige Sozialhilfe steigen, wie dann erst sein geplantes „Bürgergeld“? So absurd er auch daherredet, hat er der Debatte über das, was den Namen Grundeinkommen wirklich verdient, einen wichtigen zusätzlichen Impuls gegeben. Es ist also „Sozialismus“ zu befürchten, wenn Hartz IV erhöht wird? Da liegt er gar nicht so falsch. Denn wenn man unter dem Grundeinkommen das soziale und kulturelle Subsistenzeinkommen versteht, dann definiert man es so, wie Marx den Arbeitslohn definiert hat. Hartz IV ist offensichtlich kein solches Einkommen, sonst wäre die ganze Diskussion um das Gerichtsurteil unverständlich. Aber wenn es ein Grundeinkommen gäbe, das den Namen verdient, dann müsste Arbeit anders bezahlt werden, und die Definition dieser Bezahlung würde sich ändern.Einerseits würde das Prinzip der Marktfreiheit endlich auch den Arbeitsmarkt ergreifen. Es wäre dann erst wahr. Marktfreiheit heißt, dass man nicht gezwungen ist, eine bestimmte Sache nachzufragen oder anzubieten, sondern eine Wahl hat. Wenn ich zum Beispiel gezwungen wäre, immer die Bildzeitung nachzufragen, könnte der Preis dieses Blattes unmäßig angehoben werden. Wenn ich gezwungen bin, immer dasselbe anzubieten, nämlich mich, kann der Preis meiner „Leistung“ unmäßig gesenkt werden. Ein Grundeinkommen würde den Zwang von mir nehmen. Anbieten würde ich mich trotzdem, weil ich ja arbeiten will. Die allermeisten Leute wollen das, ich mache da keine Ausnahme. Wenn die Arbeitsnachfrage das Grundeinkommen nur relativ wenig ergänzt, würde mir das schon genügen, weil der Hauptlohn in der Arbeit selbst läge und für meine Subsistenz anderweitig gesorgt wäre. Der Unternehmer müsste sich dann freilich Mühe geben, mir eine gute Arbeit anzubieten – was den Zweck und was die Bedingungen der Arbeit angeht -, oder besser gesagt, er müsste sie der Gesellschaft anbieten, weil diese in freien Wahlen darüber zu entscheiden hätte; ich hätte mitgewählt und würde nur diese Wahl umsetzen, träte ich nun dem Kooperations- und Beschäftigungstrieb nachgebend meine Arbeit an.Die herrschende MarktlehreAndererseits wäre das in der Tat „Sozialismus“, ja „Kommunismus“, denn dieser wird von Marx unter das Prinzip „Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“ gestellt. „Jeder nach seinen Grundbedürfnissen“ würde erst einmal gelten; da ich aber meine Fähigkeiten ausleben will, bekäme ich im Spiel von Arbeitsangebot und -nachfrage ein Entgelt über die Grundbedürfnisse hinaus. Natürlich wäre deren Bezahlung ohne Arbeit dennoch an die gesellschaftliche Gesamtarbeit rückgekoppelt. Westerwelle vollbringt keine große „Leistung“, wenn er das entdeckt. Es muss immer so viel gearbeitet werden, dass Geld für die Grundeinkommen vorhanden ist, falls sie ohne Arbeit in Anspruch genommen werden. Den unwahrscheinlichen Fall einmal vorausgesetzt, dass die Zahl der Leute überhand nimmt, die, statt zu arbeiten, lieber sozial isoliert in ihrem Stübchen hocken wollen, müsste diese Zahl freilich verringert werden. Wenn wir der herrschenden Marktlehre folgen, könnte das durch eine Erhöhung des Lohnangebots erreicht werden. Außerdem muss gewährleistet sein, dass alle auf hohem Niveau ausgebildet sind, so dass jederzeit auf hinreichend viele zurückgegriffen werden kann. Warum soll das nicht möglich sein?Es wird manchmal behauptet, das Grundeinkommen sei eigentlich eine neoliberale Idee. Hier sieht man einmal, wie ein Neoliberaler reagiert, wenn die Diskussion sich dem, worum es geht, auch nur von Ferne nähert. Dafür muss man Westerwelle dankbar sein. Wie schade, dass wir keine Opposition haben, die sich über das Projekt Grundeinkommen statt Steuersenkung einig ist. Sie hätte jetzt ihre große Stunde.