Jeder Angeklagte hat in Deutschland Anspruch auf ein faires Verfahren. Diese verfassungsmäßige Garantie entspricht internationalem Menschenrecht. Zwei wesentliche Punkte zur Erfüllung dieser Norm sind: 1. Der Angeklagte hat so lange als unschuldig zu gelten, bis er durch eine rechtskräftig gewordene Entscheidung verurteilt ist. 2. Der Angeklagte darf nicht öffentlich vorverurteilt werden. Beide Rechte werden zunehmend verletzt. Das sieht man nicht nur an den Strafverfahren gegen den ARD-Wettermoderator Jörg Kachelmann und die Sängerin Nadja Benaissa, sondern auch am Mordprozess gegen das frühere RAF-Mitglied Verena Becker, der am 30. September in Stuttgart-Stammheim beginnt.
Frau Becker ist vom Generalbundesanwalt der Mittäterschaft an drei Morde
drei Morden angeklagt. Am 7. April 1977 hatten RAF-Mitglieder den damals amtierenden Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster auf dem Weg zur Arbeit in ihrem ungepanzerten Dienstwagen von einem Motorrad aus erschossen. Becker war gemeinsam mit dem RAF-Mitglied Günter Sonnenberg kurze Zeit später nach einer heftigen Schießerei festgenommen worden, die beiden führten die Tatwaffe mit, welche bei den Karlsruher Morden benutzt worden war. Dennoch wurden sie wegen dieser Verbrechen nie angeklagt.In keinem der anderen großen Strafverfahren gegen Mitglieder der RAF ist den jeweiligen Angeklagten eine konkrete Beteiligung an den angeklagten Morden nachgewiesen worden. Das hat Beobachter schon im Stammheimer Verfahren ab 1975 gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof und andere erschreckt. Die Politik hatte sich auch in jenes Verfahren über alle Maße eingemischt: Verteidigergespräche mit den Angeklagten in der Haftanstalt waren illegal von Geheimdiensten belauscht, Akten über den „Kronzeugen“ Gerhard Ernst Müller zum Staatsgeheimnis erklärt worden, in denen er einen Mord zugab, wegen dieses Verbrechens aber nie angeklagt wurde, und mehr.Auch das Verfahren gegen das frühere RAF-Mitglied Verena Becker steht nun unter einem sehr schlechten Stern. Die Politik hat ihre Hände erneut im Spiel. Akten, aus denen sich ergibt, dass Becker nicht nur als Terroristin agierte, sondern zur selben Zeit mit einem deutschen Geheimdienst zusammengearbeitet hat, wurden über Jahre hinweg geheim gehalten, weil ein Bekanntwerden „dem Wohl Deutschlands schaden“ könne.Vertrauter der GeheimdiensteBereits vor Jahrzenten mischten sich Politiker in die Strafverfolgung Verena Beckers auf eine andere, wenn auch legale Weise ein: Sie war wegen Mordversuchen an Polizeibeamten anlässlich ihrer Verhaftung von einem Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Vollstreckung der Strafe haben Politiker aber verhindert. Durch einen Gnadenakt des Bundespräsidenten wurde sie vorzeitig freigelassen. Diese Einmischung der Politik in die unabhängige Justiz ist in Deutschland als ein Relikt aus der Kaiserzeit immer noch möglich.Im Fall Becker geht diese Einmischung womöglich auf eine andere, ebenfalls noch legale Möglichkeit des politischen Eingreifens zurück: Der Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, Nachfolger Bubacks, setzte sich beim Bundespräsidenten dafür ein, dass Becker begnadigt wurde. Im Gegensatz zu anderen demokratischen Staaten ist in Deutschland der höchste Staatsankläger nicht Bestandteil der unabhängigen Justiz, sondern weisungsgebunden. Er muss als politischer Beamter den Anordnungen der Bundesregierung folgen. Über Weisungen der Regierung wird immer absolutes Stillschweigen bewahrt. Dem Volk wird dadurch vorenthalten, wann, wie und warum die Politik sich in die Justiz einbringt. Das schränkt die Dritte Gewalt ein, vor allem in Verfahren mit politischer Bedeutung, bei denen es ja ganz besonders auf ihre Unabhängigkeit ankommen sollte.Übrigens galt Kurt Rebmann als ein ganz besonders enger Vertrauter deutscher Geheimdienste, der zudem persönliche Schwächen hatte, die dazu genutzt werden konnten, ihn unter Druck zu setzen.Rebmann war es, der Verena Becker nicht wegen der Morde an Buback und seinen beiden Begleitern angeklagt hat. Ebenfalls deswegen nicht angeklagt hat er das frühere RAF-Mitglied Stefan Wisniewski, obwohl der von Verena Becker in einem Gespräch mit einem Geheimdienst beschuldigt wurde, der Todesschütze in Karlsruhe gewesen zu sein, was Rebmann bekanntgegeben worden war. Stattdessen klagte der Generalbundesanwalt das RAF-Mitglied Knut Folkerts als Todesschützen an, wofür es allerdings keine Beweise gab. Folkerts wurde zwar als RAF-Mittäter verurteilt, aber ohne ihn als Todesschützen von Karlsruhe zu bezichtigen. Erst jetzt hat die Bundesanwaltschaft, dreißig Jahre nach der Beschuldigung Wisniewskis durch Becker, ein neues Ermittlungsverfahren in dieser Sache auch gegen ihn eingeleitet, das noch nicht eingestellt ist.Öffentliche VorverurteilungÖffentliche Vorverurteilung ist ein Vergehen gegen den fairen Prozess. Es steht nun zu erwarten, dass im Becker-Verfahren Argumente der Verteidigung wieder vorgetragen werden, die schon im „Baader-Meinhof-Prozess“ vor mehr als dreißig Jahren vom Bundesgerichtshof weder widerlegt noch bestätigt werden konnten – die Angeklagten waren tot, es gab keine Revision. Aktuell aber könnte das Argument eine besondere Rolle spielen, dass eine öffentliche Vorverurteilung bereits erfolgt ist.So könnte der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, der Göttinger Chemieprofessor Dr. Michael Buback, seinem eigenen Aufklärungsinteresse und dem Prozess gegen Verena Becker durch die Veröffentlichung eines Buches über seine privaten Ermittlungen sowie durch seine unzähligen Fernsehauftritte einen Bärendienst erwiesen haben. Denn Buback schreibt und erklärt seit mehr als einem Jahr, Verena Becker sei die Todesschützin der Karlsruher Morde, sie habe den Finger am Abzug der Maschinenwaffe gehabt, mit der sein Vater und die beiden Begleiter erschossen wurden. Becker sei nicht nur RAF-Terroristin sondern auch Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes gewesen und darum vom Staat gedeckt worden. Das zeigt er akribisch und gut nachvollziehbar.Es war für ihn die wohl einzige Möglichkeit, den Staat, vertreten durch die Bundesanwaltschaft, zu bewegen, doch noch den Mord an seinem Vater und den beiden anderen Männern aufzuklären, der wie oben beschrieben, offenbar unter erheblicher politischer Einflussnahme der Politik vertuscht werden sollte. Im Strafprozess, wo Michael Buback als Nebenkläger auftritt – auch, um Akteneinsicht zu erhalten, welche ihm durch staatliche Einrichtungen verwehrt wird –, kann sich die dadurch erfolgte öffentliche Vorverurteilung der Angeklagten Verena Becker für eben diese als günstig erweisen.Eine ganz andere WendungWäre es wirklich überraschend, wenn das Verfahren eine ganz andere Wendung nähme, als gegenwärtig allseits erwartet? Die Politik hat sich bereits so stark eingemischt, dass sie möglicherweise ihre Finger nicht mehr davon lassen kann. Nun kommt es darauf an, ob in Stammheim Richter agieren, welche sich vehement und rücksichtslos für ihre Unabhängigkeit einsetzen. Sie haben die Chance, eine Scharte auszuwetzen, die ihre Kollegen vor mehr als drei Jahrzehnten vermutlich unwissentlich geschlagen haben, weil man ihnen die wichtigsten Zeugen und Akten zur Aufklärung des Verbrechens vorenthalten hat. Jetzt könnten die neuen Richter auf Freigabe aller Akten bestehen, Politiker als Zeugen laden und sich auch nicht mehr durch das Verbergen von Zeugen hinters Licht führen lassen, wie ihre Kollegen seinerzeit. Damit würden Sie dem Rechtsstaat einen Gefallen tun, dessen Ansehen durch den Durchgriff der Politik auf Akten, die sich mit dem Thema RAF befassen, schweren Schaden genommen hat.Sie könnten aber auch so handeln, wie es schon einmal in der deutschen Justizgeschichte in einem Terroristenprozess geschehen ist: im Verfahren um die Ermordung des Terroristen Ulrich Schmücker. Es gilt als das längste in der deutschen Geschichte. In vier Prozessen von 1976 bis 1991 wurde an 591 Verhandlungstagen versucht, zu klären, wer Schmücker am 5. Juni 1974 im Berliner Grunewald erschossen hat. Schmücker war, wie Verena Becker, nicht nur Terrorist, sondern auch für den Verfassungsschutz tätig. Der Prozess um seine Ermordung wurde mit der amtlichen Begründung ergebnislos eingestellt, zwei Staatsanwälte hätten die Aufklärung massiv behindert – und auch sonst sei das Verfahren durch Politik und Geheimdienst manipuliert worden.