Neue Ungleichheit zieht ins Gesundheitssystem ein. In der Sozialpolitik der bürgerlichen Koalition spiegeln sich Absetzbewegungen von den "Losern" wieder
Wenn in diesen Tagen die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihr 100- jähriges Bestehen feiert, wird sie im Rahmen ihres Kongressthemas „Transnationale Vergesellschaftungen“ auch darüber diskutieren, welche Folgen die Globalisierung für die Strukturen sozialer Ungleichheit hat. Waren bislang Herkunft, Bildung und Einkommen ausschlaggebend für den sozialen Status, so greift, glauben die Soziologen, die herkömmliche Klassen- oder Schichtentheorie nicht mehr, um die realen Lebenslagen zu beschreiben. Ist die Klassengesellschaft also ein Relikt der Nationalstaaten, die durch neue „Ungleichheitsregime“ abgelöst wird?
Taucht man von den Höhen der soziologischen Theoriebildung ab in die Niederungen der politischen Gegenwart und
enwart und des Alltags, scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Die glückliche „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, so es sie je gegeben haben sollte, ist zerfallen in ihre Spaltprodukte und wird mental zusammengehalten von Ressentiments und Ängsten, die in der laufenden Sarrazin-Debatte ihre farbigsten Blüten treiben.Entgegen aller verlautbarten Empörung verweigert die Mehrheitsgesellschaft mittlerweile sogar ein angemessenes Existenzminimum und verschanzt sich hinter einer Ideologie, nach der nur derjenige essen darf, der auch arbeitet, oder nur die ein Teilhaberecht beanspruchen kann, die das Kopftuch ablegt und sich kulturell assimiliert.Im 20. Jahr nach dem Mauerfall werden soziale Mauern hochgezogen, hinter denen Wohnfestungen, Eliteschulen oder Privatpraxen errichtet werden. Wo die Schießscharten bislang nur von Söldnern besetzt waren als Drohkulisse, bezieht nun ein verteidigungsbereites Bürgertum Posten. Es geht um Sicherheit, um Aufstieg für den spärlichen Nachwuchs, um ein möglichst gutes, möglichst langes Leben.Privatreserven mobilisiertIn der Sozialpolitik der bürgerlichen Koalition spiegeln sich diese Absetzbewegungen wieder. Sie zieht klare Grenzen zu den „Losern“ nach unten einerseits und provoziert das arbeitsethisch motivierte Prekariat andererseits; sie lockt die abstiegsängstliche und distinktionswillige Mittelschicht mit Aussichten zumindest für die nächste Generation und hält die Oberschicht mit Unternehmensentlastungen und Steuergeschenken bei Laune. Das ist in einer Finanzkrise, in der nicht nur der Sozialstaat, sondern auch der Steuerstaat kollabiert, ein Risiko, weshalb möglichst viele private Reserven mobilisiert werden.Wurden die brachliegenden Bildungsressourcen in den sechziger Jahren noch ausgeschöpft, indem etwa bildungsferne Mädchen wohlwollend weiterempfohlen und finanziell unterstützt wurden, ist die Elitebildung inzwischen wieder an die elterlichen Aufwendungen gebunden. Kamen alte Menschen bis vor kurzem mit ihrer gesetzlichen oder betrieblichen Rente aus, entscheidet nun die private Alters- und Pflegevorsorge über die zukünftige Lebensart. Und schien Krankheit bislang als ein Schicksal, das ohne Rücksicht auf Herkunft jeden ereilen kann und deshalb der Solidarität aller bedurfte, zielen alle gesundheitspolitischen Vorhaben mittlerweile auf die gezielte Segmentierung von Anspruch und Leistung. Allerdings muss Gesundheitspolitik Rücksicht darauf nehmen, dass Krankheit in der Bevölkerung immer noch anders wahrgenommen wird als Arbeitslosigkeit und Armut. Eine Mehrheit steht nach wie vor hinter einem paritätisch finanzierten solidarischen Gesundheitssystem.Der Ausstieg aus der Parität war für Gesundheitsminister Rösler ein unhintergehbares Versprechen an die Unternehmen. Er verbrämte es sozial mit einer letztmaligen Beitragserhöhung, die vorerst Zusatzbeiträge verhindern soll. Die Versicherten werden vorerst nur zu spüren bekommen, womit sie auch ohne Reform rechnen mussten.Karenzzeit für die KassenDas gewonnene Jahr wird den Kassen eine gewisse Karenzzeit verschaffen, um sich im Wettbewerb aufzustellen: 2012 wird sich dann zeigen, wer durch Fusion und Management genug Wirtschaftskraft akkumuliert hat, um möglichst viele Versicherte an sich zu ziehen. Am Ende wird es wie in der Lebensmittelbranche keinen Wettbewerb mehr geben, sondern nur noch Discounter. Der Druck auf die Anbieter, vor allem auf Ärzte und medizinisches Personal, wird steigen, die Versorgungsqualität sinken zu Lasten der Patienten.Für diejenigen, die es sich leisten können, ist das kein Problem, denn sie werden sich nun wieder leichter in die Privatversicherung verabschieden können, deren Wohlergehen Philipp Rösler am Herzen liegt. Wer es qua Einkommen nicht über die Versicherungspflichtgrenze schafft, darf sich ein bisschen was auf eigene Rechnung dazukaufen und sich „besonders“ fühlen.Die ganz Armen werden (noch) alimentiert über den Sozialausgleich. Richtig hart trifft es diejenigen, die gerade so über der Ausgleichsschwelle liegen: die schlecht verdienenden Frauen, die Alleinerziehenden, die Rentner ohne Zubrot. Mancher wird möglicherweise nicht einsehen, warum er mehr zahlen soll als ein Anderer, der nicht arbeitet, keine Kinder erzieht oder nicht lebenslang angespart hat. Diese Spaltungslinien, die im Hartz IV-Streit schon jetzt virulent sind, könnten auch auf das noch sensiblere Feld der Gesundheit ausgreifen.Das „Ungleichheitssregime“ ist, so gesehen, nicht global gesteuert, sondern hausgemacht und gewollt, auch wenn der Druck von außen nicht zu leugnen ist. Es wird eine spannende Frage sein, ob die neuen Spaltungen in der Daseinsvorsorge nur abgrenzungsorientierte Individuen hervorbringen, oder auch neue Gruppen und Solidargemeinschaften. Bei allen unbestreitbaren Wohltaten des Sozialstaats: Soziale Fantasie in Bezug auf die Vorsorgesysteme hat er nicht mobilisiert.Und je lukrativer der Gesundheitsmarkt wird, desto schwieriger werden Interventionen von unten.