Es ist ein bizarres Wahljahr für die Vereinigten Staaten. Als Tea Party-Revolutionäre verkleidete rechte Demagogen geben vor, die Nation von der „Elite“ befreien zu wollen. Und ihre Revolution wird von Multimillionären und Milliardären finanziert, die dank neuer Richtlinien mehr als jemals zuvor Geld in den Wahlkampf fließen lassen. Die Agenturen der Wahlwerbung müssen nicht einmal sagen, wer dafür bezahlt. Unternehmen hätten die gleichen Rechte wie Personen, urteilte das Oberste Gericht im Januar.
Das Zentrum des politisch Akzeptablen hat sich weit nach rechts verschoben. Bis hin zum Grotesken. Joe Miller, der nach Umfragen vorn liegende republikanische Senatskandidat in Alaska, hat einen unangenehme Fragen stellenden Reporter von seinen
on seinen Sicherheitsleuten mit Handschellen an einen Stuhl fesseln lassen. Illegale Einwanderung aus Mexiko sei lösbar, verkündet Miller. Die DDR habe es ja auch geschafft, ihre Grenze zu sichern. Im Staat Ohio ging der republikanische Kongresskandidat Rich Iott jahrelang seinem Hobby als Darsteller eines SS-Mannes der Panzer-Division Wiking nach, exerzierte mit einer „Einheit“ und nahm an Manövern teil. In der richtigen SS-Division dieses Namens hätten viele Osteuropäer gekämpft, die sich gegen den Kommunismus wehren wollten, erläutert Iott dem Fernsehsender CNN.Sharron Angle, in Nevada republikanische Kandidatin für den Senat, hat zur Diskussion gestellt, die staatliche Rentenversicherung zu privatisieren. Ken Buck, der Bewerber für das gleiche Gremium in Colorado, bezweifelt die Verfassungskonformität der geltenden Rentenversicherung. Christine O‘Donnell, Senatskandidatin in Delaware, bestreitet, dass die US-Verfassung die Trennung von Kirche und Staat vorschreibe. Sie sei keine Hexe, teilt sie noch mit, obwohl sie in jungen Jahren mit der Wicca-Religion gespielt habe. Augenarzt Rand Paul, republikanischer Senatsaspirant in Kentucky, stellt die Verfassungsmäßigkeit der Bürgerrechtsgesetze in Frage und geißelt Medicare, die staatliche Gesundheitsversicherung für Rentner, als Sozialismus. Rund die Hälfte seiner Patienten beziehen allerdings Medicare, und Rand Paul kassiert.Bei der Tea Party, die vielerorts während des Wahlkampfes nichts anderes ist als die Republikanische Partei, kommen unangenehme Charakterzüge zum Ausdruck: Die Aktivisten kämpfen angeblich um Ideale, in Wirklichkeit aber narzisstisch für ihr eigenes Wohlergehen und oft hasserfüllt gegen „die Anderen“. Die Anhänger dieser Bewegung sind weiß, vorrangig mittleren Alters oder Pensionäre und überdurchschnittlich wohlhabend. Das Gerede von der Regierung, die viel zu groß sei und viel zu viel Geld ausgebe, gilt nur situationsbedingt. Als unter George W. Bush Riesendefizite eingefahren wurden – nach Jahren eines ausgeglichenen Haushalts unter Bill Clinton – gab es keine Tea Party, und die Republikaner haben eifrig mit Ja gestimmt, als es um Defizit fördernde Steuererleichterungen für die Reichen ging.Und Regierungsauslagen sind nicht zu hoch, wenn sie einem selber zugute kommen. Rand Paul mit seinen Medicare-Einnahmen ist ein Prototyp für diese Auffassung. Ohne rot zu werden, wettert der Politiker gegen „den Staat“, dem er einen großen Teil seines Einkommens verdankt. Joe Miller in Alaska hat selbst von einem staatlichen Hilfsprogramm für Landwirte profitiert. Die erwähnte Sharron Angle, die Feuer und Flamme spuckt gegen Obamas Krankenversicherung – denn der Staat solle die Finger lassen vom Gesundheitswesen – ist selber krankenversichert durch das staatliche Programm für ihren Ehemann, einen pensionierten Regierungsangestellten. Und republikanische Senatoren und Abgeordnete, die zu Felde gezogen waren gegen den „Sozialismus“ bei Obamas Konjunkturprogramm, bemühen sich jetzt um Geld für Projekte in ihren Wahlkreisen.Die letzten KapitelDiese Fakten sind bekannt und werden von den Politikern auch nicht bestritten. Viele Anhänger stört die Scheinheiligkeit offenbar nicht. Es hat sich noch kein Tea Party-Revolutionär mit der Nachricht gemeldet, er wolle seine staatliche Rente zurückzahlen. Oder auf Medicare verzichten. Die Tea Party-Bewegung und die rabiate Kritik an „der Regierung“ sind freilich Ausdruck einer weit verbreiteten und durchaus begründeten Angst, dass der Geschichte des amerikanischen Traums gerade die letzten Kapitel geschrieben werden. Eine Ära der Unsicherheit und Verunsicherung hat begonnen. Programmatisch hat die Tea Party wenig Konkretes zu bieten: Man sucht nicht nach gesellschaftlichen und gemeinschaftsorientierten Lösungen, sondern kämpft um das eigene Rettungsboot. Misstrauen wächst. Und der Präsident ist Afro-Amerikaner.Sehr weit rechts stehende Aktivisten haben auch deshalb Erfolgsaussichten, da sie geradezu unbegrenzt Geld ausgeben. Das ist kein Geheimnis: Wie noch nie zuvor lassen superreiche Bürger und Unternehmen aus der Energie-, Finanz- und Versicherungsindustrie Geld fließen in den Wahlkampf. Die US-Handelskammer schätzungsweise 200 Millionen Dollar. Und man spricht sich ab: Die New York Times berichtete diesen Monat über Treffen hinter verschlossenen Türen von Dutzenden Angehörigen der reichsten Familien der USA, von Gesandten der Großunternehmen und Think Thanks, koordiniert von den Brüdern Charles und David Koch, Multimilliardären, die schon seit Jahren rechte Anliegen sponsern. Bei den Meetings dabei waren Hedge-Fonds-Manager, Repräsentanten von Energiefirmen, dazu Vertreter von Burger King, der Bank of America, JLM Investment, des Krankenversicherungsriesen Aon, der Allied Capital Corp., des AMG National Trust, der Blackstone Group und Citadel Investment, von Bechtel und Fox News. Ein beträchtlicher Anteil der wirtschaftlichen Elite.Wer, wenn nicht wir?„Wenn nicht wir, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann sonst?“, begann Charles Koch ein Einladungsschreiben vergangenen Monat. Noch „nie zu unseren Lebzeiten“ sei der „Angriff auf die amerikanische Freiheit und den Wohlstand“ so groß gewesen wie heute. Da man sich nicht auf Politiker verlassen könne, müsse das Netzwerk von Wirtschafts- und philanthropischen Führern einschreiten. Koch zu einem Reporter des Wall Street Journal: Man wolle 90 Prozent aller Gesetze und Regierungsvorschriften abschaffen. Auch republikanische Politiker durften an den Meetings teilnehmen. Und die beiden Verfassungsrichter Antonin Scalia und Clarence Thomas. Die nächste Konferenz ist für Januar 2011 im Rancho Las Palmas-Resort im kalifornischen Palm Springs geplant.In den USA sei das Einkommen seit acht Jahrzehnten noch nie so konzentriert gewesen wie heute, rechnet der frühere Arbeitsminister Robert Reich nach. Das reichste 0,1 Prozent der Bürger verdiene augenblicklich so viel wie die 120 Millionen auf den unteren Stufen der Gehaltstreppe. Die Oberen haben sich die Tea Party gemietet für diesen Wahlkampf. Bill Moyers, Beobachter jenes Trends, hat Mitte der sechziger Jahre für Präsident Lyndon B. Johnson gearbeitet, als Bürgerrechts- und Sozialgesetze beschlossen wurden. Die US-Demokratie habe viele Krisen durchgemacht und sei „ein paarmal gerade noch davongekommen“, schrieb Moyers kürzlich mit Blick auf diesen Wahlkampf. Vielleicht gehe diese „Glückssträhne jetzt zu Ende“.