Wie es in Stuttgart nach Heiner Geißlers Schlichterspruch weitergeht, ist unklar. Werden die Gegner des Tunnelbahnhofs klein beigeben? Das ist kaum anzunehmen. Es war vorher klar: Hätte er den Volksentscheid vorgeschlagen, die Landesregierung wäre ihm nicht gefolgt. Er hätte es aber vorschlagen müssen, denn die Befürworter konnten in den Schlichtungsrunden nicht überzeugen. Warum soll ihm nun stattdessen die Stuttgarter Bürgerbewegung folgen? Sie wird sich weiter gegen den Abriss des historischen Bahnhofsgebäudes stemmen. Eins steht aber jetzt schon fest: Im Buch der Demokratie hat sie eine neue Seite aufgeschlagen. Was Demokratie wäre und was Verlogenheit ist, sehen wir deutlicher als vor Beginn der Auseinandersetzungen.
Schon am Freitag vo
Freitag voriger Woche konnte die FAZ frohlocken, Geißler gebe sich als Freund der Befürworter zu erkennen. Fast konnte man glauben, sie habe ihm eine Strategie unterstellt: in all den Schlichtungsrunden nur auf das Argument der Gegner zu lauern, das sich umdrehen und gegen sie verwenden ließ. Dies Argument war die Einschätzung der Gegner, der einzige „Nutzen“ des Tunnelbaus sei die Zockerei mit Immobilien in dem Areal, auf dem jetzt noch das Bahnhofsgebäude steht. Geißler habe also nur formulieren müssen, die Bedingung für den Tunnelbau sei, daß die Immobilienzockerei ausbleibe. Die Landesregierung solle es versprechen. Wie viel ist nicht schon versprochen worden! Hauptsache, der Abriss des Gebäudes wird zu Ende geführt. Überhaupt sei es ja nur darum gegangen, eine Linie zu finden, auf die sich eine Regierung aus CDU und Grünen werde einigen können.Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Umso mehr mit einem Parteienstaat, in dem Parteien Demokratie nicht verkörpern und ausführen, sondern sich an ihre Stelle setzen.Wie Geißler sich am Dienstag auf der Pressekonferenz präsentierte, wirkte er zwar nicht wie ein Machiavellist, und er ist auch keiner, vielmehr ein grundanständiger und in seiner Art fortschrittlicher Mann. Aber in der Sache hat er so gesprochen, wie von der FAZ angekündigt. Man schreibt ihm gern Schlitzohrigkeit zu – wenn die es nicht war, die ihm eingab, was er für einen Kompromiss hält, was war es dann? Eben der Parteienstaat mit seinen Diskursstrukturen, von denen sich auch ein Heiner Geißler nicht befreit. Da haben wir, oder hatten jedenfalls bisher, zwei Parteilager, das eine von der CDU, das andere von der SPD angeführt; wenn sie miteinander streiten, gehen sie nie so weit, ein Projekt des anderen Lagers zu verneinen, sondern sagen „Ja, aber“ zu ihm. Das hat Geißler mit der Muttermilch eingesogen und jetzt aus gegebenem Anlass reproduziert. Das Tunnelbauprojekt erscheint ihm als Tatsache, es wird bereits verfolgt, also kann man es nur bejahen – und ein kräftiges Aber folgen lassen.Deshalb schlägt er nun eine Stiftung vor, die gewährleistet, dass die durch den Bahnhofsabriss frei werdenden Grundstücke „der Allgemeinheit und nicht der Geschäftemacherei zur Verfügung stehen“. Und wenn es Streit gibt? Erleben wir nicht gerade, wie die Geschäftemacherei selber sich als das Allgemeininteresse ausgibt? Für diesen Fall schlägt Heiner Geißler, lachen Sie nicht, einen Schlichter vor.Die Pflicht zur PräsentationEs fehlte nur noch, dass Boris Palmer von den Grünen, der wichtigste Exponent der Gegner in den Schlichtungsrunden, das Angebot von Bahnvorstand Volker Kefer annimmt und sich von ihm bei der Deutschen Bahn anstellen lässt. Denn auch das gehört zum Parteienstaat: Politiker, die scheinbar unabhängig vom Kapital agieren, nach Ende ihrer Karriere indes einen Industrieposten annehmen, der endlich einmal richtig gut bezahlt wird. Roland Koch war nur das jüngste Beispiel.Wenn wir lediglich sähen, dass es nicht das war, was die Stuttgarter Bewegung wollte, wäre wenig gewonnen. Sie hat aber Prozesse erzwungen, die, indem sie in die Nähe eines erweiterten Demokratiemodells führen, dem Parteienstaat die alleinige Aktionshoheit absprechen. Wie es nicht anders sein kann, erscheint das Neue vorerst in alten Begriffen, deren Bedeutung sich ändert. Ein Volksentscheid geht doch gar nicht, sagt Geißler – die Position der Landesregierung einnehmend, der allerdings die Opposition mit Gutachten widersprochen hat. Oder auch: Das ist keine richtige Schlichtungsrunde! So sagten die Befürworter, solange sie fürchten mussten, dass Geißler sich für den Volksentscheid ausspricht. Schlichter sei er nur metaphorisch gewesen, hätten sie in diesem Fall betont. Jetzt soll er natürlich richtige Schlichterautorität haben. Wenn sein Spruch aber nicht akzeptiert wird, werden sie wieder sagen, das sei jedenfalls kein Schlichterspruch gewesen, damit sich die Gegner nicht das Recht der Gewerkschaften herausnehmen, nach der Ablehnung eines solchen Spruchs den Kampf erst richtig zu eröffnen.In den Stuttgarter Schlichtungsrunden ging es letztlich nur darum, ob Geißler den Volksentscheid vorschlagen würde oder nicht. Schlichtung und Volksentscheid waren eine Verbindung eingegangen, die es noch nie gegeben hat. Durch diese Verbindung ändern beide Begriffe ihren Sinn. Nicht zwei Lohnmodelle, sondern zwei alternative Produktionsoptionen standen hier zur Entscheidung; da sie durch Volksentscheid hätte fallen sollen, konnten die „Schlichtungsrunden“ nur dazu da sein, Wähler zur Wahl zu qualifizieren. Wozu sonst ihre Live-Übertragung im Fernsehen? Das Duell von Kanzlerkandidaten stand Modell, nur dass hier nicht Personen, sondern Pläne gegeneinander antraten. Statt von Schlichtungsrunden wollen wir daher von Präsentationsrunden sprechen. In Stuttgart wurde bewiesen, dass es möglich ist: Man kann alternative Produktionspläne, die eine beträchtliche Reichweite haben – hier den Tunnelbau, da die Erweiterung des bestehenden Bahnhofs –, mit allen wichtigen Folgen und Nebenfolgen präsentieren, ohne an der Komplexität zu scheitern und die Zuschauer zu überfordern. Am Ende sieht man, das wäre mehr Demokratie – und fragt sich, warum sie nur auf Bahnhofsprojekte Anwendung finden soll.Warum nicht zum Beispiel auch auf die Frage, wie sich privater Autoverkehr, öffentlicher Nahverkehr und Fahrradverkehr zueinander verhalten sollen? Sie stehen heute in der Proportion 50 zu 25 zu 25, ökologisch informierte Verkehrswissenschaftler haben ausgeführt, dass eine Proportion 10 zu 30 zu 50 wünschenswert wäre. Auch das ist eine strittige Produktionsfrage. Demokratisch wäre es, auch hierüber allgemeine Wahlen abzuhalten. Es könnten diese beiden, aber auch drei oder vier Proportionen zur Wahl stehen. Eine davon müsste immer die sein, die den Status quo zum öffentlichen Bewusstsein bringt. Eine staatliche Agentur würde verpflichtet, die Strukturen des Status quo in klarster Weise als Wahlmöglichkeit darzulegen; an dieser Klarheit hätten sich die anderen Wahlalternativen zu orientieren.Präsentationsrunden, die der Wahl vorausgingen, würden wiederum über Folgen und Nebenfolgen aufklären und dadurch manche zur Verhaltensänderung führen. Die Debatte hätte auch den Effekt, dass jede Wahlalternative sich, um Einwänden zu begegnen, noch vor der Wahl modifizierte. Wenn einzelne Presseorgane falsch über die Runden informieren, würde der „Schlichter“, der in Wahrheit Moderator ist, es in Pressekonferenzen benennen. Und dann wäre es die Gesellschaft, die durch Wahlen entschiede – nicht die Autokonzerne im Bündnis mit einem ihm hörigen Parteienstaat. Und auch nicht ein Heiner Geißler qua Schlichterspruch, mag es auch noch so lehrreich sein, diesem Mann zuzuhören.Der Dienst am KundenDie Stuttgarter Auseinandersetzung zeigt klar, dass Konsumfreiheit sich nicht allein auf dem Markt entscheidet. Man kann eben nicht ins Kaufhaus gehen, um auf dem einen Grabbeltisch Strümpfe, Atomstrom und unterirdische Bahnhöfe, auf dem anderen die Verdopplung des öffentlichen Nahverkehrs zu finden. Solche Schlüsselfragen der Produktion haben zwar Auswirkungen bis ins Kaufhaus hinein, müssten aber durch allgemeine Wahlen entschieden werden. Jedes zur Wahl stehende Programm – Konsumprogramm, das sich als Investitionsprogramm ausweist – müsste alle Fragen solcher Art in einem einzigen Konzept bündeln, das heißt zusammenhängend beantworten. Das Wahlergebnis würde wieder bis ins Kaufhaus durchschlagen, aber nun hätten nicht nur Konzerne und Parteiführungen gewählt, sondern die ganze Gesellschaft. Da dies der einzige Unterschied zum Status quo wäre, wäre die Freiheit der Grabbeltische und überhaupt all dessen, was heute die „Freiheit des Marktes“ beweisen soll, in keiner Weise angetastet.Und der Staat wäre dazu da, das Wahlergebnis durchzusetzen. Dazu muss er nicht „Schlüsselindustrien verstaatlichen“: Es reicht, wenn er alle Unternehmer zum Dienst am Kunden zwingt, der ihnen sowieso am Herzen liegt, wie sie immer wieder behaupten. Stattdessen haben wir den Parteienstaat. Er verfügt noch über alle Macht. Die Ereignisse in Stuttgart haben aber gezeigt, dass seine Tage gezählt sind.