Staatliche Archive werden immer dann in dramatischer Weise der Öffentlichkeit zugänglich, wenn ein politisches System in eine Existenzkrise gerät oder zusammenbricht
Was die verblüffte Welt dank Wikileaks über das Vorgehen der USA im Irak und in Afghanistan zur Lektüre erhält, hat den Charakter eines Offenbarungseids. Mehr noch, es vermittelt eine Vorstellung, was auf uns zukäme, würden über Nacht zentrale staatliche Archive geöffnet. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob und warum ein Obergefreiter in der irakischen Wüste war und sich während seines Dienstes in streng geheimen Datennetzen der US-Regierung tummeln konnte.
Wird der Einzeltäter über Gebühr in den Vordergrund gestellt, läuft die Wikileaks-Geschichte Gefahr, zu sehr in die Nähe von Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht zu geraten. Stattdessen sollte man sich einem Phänomen zuwenden, wie es sich als Gesetz
aus Tausendundeiner Nacht zu geraten. Stattdessen sollte man sich einem Phänomen zuwenden, wie es sich als Gesetzmäßigkeit des vergangenen Jahrhunderts ausweisen lässt: Archive sind immer dann in dramatischer Weise der Öffentlichkeit zugänglich geworden, wenn ein politisches System seinem Ende entgegen sah und bald darauf für immer verschwand. Zuletzt konnten wir das beim Zusammenbruch der Sowjetunion bewundern, als zum Erstaunen der übrigen Welt Einblicke in sowjetisches Staatshandeln über Jahrzehnte hinweg möglich wurden. Freilich reicht dieses Maß an Publizität nicht an das heran, was nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches 1917/18 geschah. Seinerzeit hielten die Bolschewiki die Archive des Zarenreiches nicht länger unter Verschluss. Das verfehlte seine Wirkung nicht und hatte auch Einfluss auf das vom Weltkrieg schwer gezeichnete Deutschland. Diese Wirkung kann durchaus in eine Reihe mit historischen Verhängnissen gestellt werden, als deren größtes der 1919 geschlossene Vertrag von Versailles betrachtet werden muss. Wer sich heute fragt, warum es nach dem nicht anzuzweifelnden Stand der Forschung gerade Reichswehrkreise waren, die in revisionistischer Absicht nach Ende des I. Weltkrieges einen Adolf Hitler aus dem Trüben fischten, wird hier eine Ursache für die weitere Entwicklung finden. Sie mündete in die militärische, politische und moralische Niederlage Deutschlands im Mai 1945.Sympathien versiegenBei der Öffnung der Archive des Zaren-Staates kam unter anderem das zum Vorschein, was dem berühmten Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und der Balfour-Deklaration von 1917 voranging. Man erfuhr, wie jüdische Spitzenrepräsentanten bei den Krieg führenden Mächten – beim deutschen Kaiser, dem US-Präsidenten, dem britischen Premier, dem französischen Präsidenten und dem russischen Zaren – mit der Frage vorstellig wurden, ob sie sich für eine Heimstatt des jüdischen Volkes in Palästina verwenden wollten. Kaiser Wilhelm II. stand dabei zu seinem türkischen Alliierten, was entscheidend dazu beitrug, Sympathien der jüdischen Community in den USA für das Deutsche Reich, die es vor 1914 durchaus gab, versiegen zu lassen. Welche Folgen diese Reaktion, die im Sinne wohlverstandener eigener Interessen nur zu verständlich schien, auf deutscher Seite hatte, wird in der Person von Wilhelm II. deutlich. Hatte der noch vor dem I. Weltkrieg deutlich sein Interesse an Jerusalem bekundet und in den Auseinandersetzungen mit anderen die „jüdische Karte“ gern gespielt, war er später bei diesem Thema nur noch „Gift und Galle“.Die Archive des zaristischen Russland enthielten, wie 1917/18 erkennbar war, brisantes Material zum Umgang der europäischen Großmächte mit einer jüdischen Heimstatt in Palästina. Wie sich Jahre später herausstellen sollten, wurden die entsprechenden diplomatischen Aktivitäten vom NS-Regime als Vorlage missbraucht, um die abstruse Theorie von der „zionistischen Weltverschwörung“ zu propagieren. Für die NS-Diktatur ein wesentliches Argument, die Entfesselung des II.Weltkrieges zu rechtfertigen. Dabei war das Öffnen der zaristischen Archive ein Vorgang, der bei den leidgeprüften Menschen jener Zeit so etwas wie Hoffnung hervorgerufen hatte. War es nach ihrer Ansicht doch gerade die Geheimdiplomatie, die sie in den Sog des Krieges riss und so viel Elend und Leid zu verantworten hatte. Den Regierenden sollte künftig in demokratisch verfassten Staaten auf die Finger gesehen werden, um durch einen Wandel der politischen Kultur zu garantieren, dass einem Regierungshandeln, welches zum Ausbluten der Völker führt, für immer der Boden entzogen wurde. Eine vergebliche Hoffnung, wie sich zeigen sollte. Keine wirkliche RechtspflegeGilt das Verlangen nicht bis heute? Viele Menschen stellten sich schon vor den Veröffentlichungen bei Wikileaks diese Frage. Sie fanden darauf bei ihren Regierungen keine Antworten. Die Weigerung, sich zum Beispiel über Untersuchungsausschüsse des Bundestages der Verantwortung zu stellen, dass staatliche Handeln ausschließlich – wie es das Grundgesetz fordert – an den Regeln des Völkerrechtes auszurichten ist, bestimmt das Vorgehen. Seit den völkerrechtswidrigen NATO-Angriffen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien heiligt der Zweck wieder die Mittel. Wie kann es auch anders sein, wenn die dafür Verantwortlichen nie ernsthaft damit rechnen müssen, sich deshalb juristischen Gremien wie dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stellen zu müssen. Auch auf dieses Manko internationaler Rechtspflege weisen die Veröffentlichungen von Wikileaks hin. Den publizierten Dokumenten ist heute zu entnehmen, was man immer schon ahnte, und nun frei Haus geliefert bekommt. Um sich dazu ein Urteil zu bilden, ist noch nicht einmal ein Gericht nötig.Aber auch sonst ist seit den Veröffentlichungen bei Wikeleaks vieles anders geworden. Man muss nicht einmal mehr nach Peking fliegen, um das Verschwinden von Seiten unliebsamer Art aus dem Internet feststellen zu müssen. Die Angriffe gegen den Spitzenmann von Wikileaks erinnern an die Vorwürfe, mit denen in der Vergangenheit über angebliche „Devisenvergehen“ unliebsame Zeitgenossen mundtot gemacht werden sollten. Natürlich ist der Schutz der Rechtsordnung ein hoher Wert und auch hier muss dem vorgebeugt werden, durch den Zweck die Mittel heiligen zu lassen. Allerdings haben seit mehr als einem Jahrzehnt viele Menschen den Eindruck, dass die Rechtsordnung des demokratischen Staates von den Regierenden lediglich dazu benutzt wird, ihr nicht von den grundlegenden Werten bestimmtes Handeln abzuschirmen. Wikileaks macht über seine Veröffentlichungen nicht zuletzt deutlich, welche Gefahren für Frieden und Stabilität auf der Welt durch jene hervorgerufen werden, die genau diese Vokabeln im Munde führen.