Das Internet wird euch frei machen, behaupteten Netzfreunde lange. Das ist eine Täuschung, sagt Evgeny Morozov, Ex-Online-Aktivist und Autor des Buchs "The Net Delusion"
Fördert das Internet die Demokratie? Untergräbt es alte Machtstrukturen? Der gebürtige Weißrusse Evgeny Morozov hat eigene Erfahrungen mit dem Nutzen und Nachteil der digitalen Vernetzung gemacht: Als Mitarbeiter von George Soros' Open Society Institute hat er nach dem Zusammenbruch des Ostblocks jahrelang versucht, durch „Online-Aktivismus” die Demokratisierung in den osteuropäischen Staaten vorantreiben. Heute beurteilt er die politische Rolle des Internet wesentlich skeptischer. Sein neues Buch, das gerade auf Englisch erschienen ist, heißt denn auch The Net Delusion – "Die Internet-Täuschung". Morozov lebt mittlerweile in den USA und lehrt an der Standford University.
Der Freitag: Herr Morozov, Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie autor
beschreiben in Ihrem Buch, wie autoritäre Regierungen überall auf der Welt heute mit dem Internet umgehen. Das Überraschende: sie haben erstaunlich wenig Angst vor dem Netz! Befördert das Internet denn nicht die Demokratisierung autoritärer Staaten?Ich glaube, der Denkfehler besteht schon darin, das Internet unabhängig von den jeweiligen sozialen und politischen Umständen zur „Freiheitstechnologie“ zu erklären. Die Diktatoren der Welt haben gelernt, kritische Inhalte im Netz unschädlich zu machen. Zwar scheitern sie regelmäßig, wenn sie versuchen, bestimmter Webseiten offen zu zensieren, weil das Blockieren das Interesse der Öffentlichkeit noch steigert. Was verboten wird, war ja immer schon immer besonders interessant! Aber es gibt eben auch andere Möglichkeiten. So mobilisieren immer mehr Regierungen ihre Anhänger, damit sie im Netz die offizielle politische Linie zu vertreten, oder sie bezahlen Kommentatoren, um missliebige Medien zu diskreditieren. Das effektivste System der Internetkontrolle ist eben nicht das mit der striktesten Zensur, sondern eines, dass überhaupt keine offene Zensur nötig hat!In der Internet-Debatte war lange die Rede vom so genannten „Dilemma der Diktatoren“. Demnach hätten autoritäre Staaten nur die Wahl, entweder die Verbreitung des Internet zu behindern - und damit auf wirtschaftliches Wachstum zu verzichten – oder ihre Kontrolle über den Informationsfluss aufzugeben. Ist das ein Mythos?Die Regierungen von China, Weißrussland oder Vietnam haben diese Schwierigkeit tatsächlich. Aber sie wird stark übertrieben. Durch die Personalisierung vieler Internetdienste und die Auswertung der Nutzerdaten können sie immer besser unterscheiden zwischen Menschen, die ein politisches Problem für sie darstellen, und solchen, die der nationalen Wirtschaft nutzen. Gerade bestimmte Eigenschaften des so genannten Web 2.0 entschärfen das „Dilemma der Diktatoren“. In meinem Buch bringe ich das Beispiel eines Investment-Bankers in China, der online alles zu sehen bekommt, was er will, während Menschenrechtsaktivisten nur einen Teil des Netzes anschauen dürfen.Aber bietet denn das Netz oppositionellen Bewegungen keine neuen Möglichen zur Mobilisierung und Organisation?Doch, das tut es. Aber die Masse der Bevölkerung besteht eben nicht aus entschlossenen Widerstandskämpfern, sondern aus Menschen, die vor allem Unterhaltung und Ablenkung suchen. Diesen Bedürfnissen kommen die Regierung entgegen. Beispielsweise wird in China der Konsum von Internet-Pornographie kaum noch behindert. In meiner Heimat Weißrussland bieten Server illegal Spielfilme und Computerspiele zum Download an, ohne dass es die Regierung stört. Kurz: die Verfügbarkeit von Unterhaltung kann die Unzufriedenheit der Bevölkerung abschwächen, so wie das Westfernsehen die Bevölkerung der DDR nicht revolutionär, sondern zufriedener gemacht hat. Im Krisensituationen bleibt dann immer noch die technische Sabotage durch Denial of Server-Angriffe (DDOS).Seit den Auseinandersetzungen um Wikileaks ist diese Form der „Zensur“ ja mehr ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Werden solche Angriffe zunehmen?Auf jeden Fall! DDOS-Attacken sind billig zu haben. Bis vor kurzem wurden sie sogar auf Ebay gehandelt. Sie haben für die Auftraggeber außerdem den Vorteil, dass sie selbst niemals öffentlich in Erscheinung treten und deshalb auch nicht kritisiert werden können. Es ist extrem schwierig, ihnen ihre Verantwortung nachzuweisen. Selbst wenn wir herausfänden, dass drei Computer im Kreml an den Attacken auf die Internetpräsens von Chodorkowski Anfang Januar beteiligt waren, was beweist das? Jeder fünfte Computer im Netz ist durch Schadprogramme kompromittiert und kann Teil eines Bot-Netzes sein, das einen solchen Angriff durchführt. Solche Attacken üben auf die Betreiber von oppositionellen Seiten großen Druck aus: Man weiß nicht, wann die Angriffe kommen, wie lange sie dauern werden, wie lange der Provider das noch mitmachen wird, weil üblicherweise auch dessen andere Kunden geschädigt werden... DDOS-Zensur ist effektiver als eine Webseite zu blockieren, denn das lässt sich bekanntlich mit Programmen wie TOR umgehen.Wie können sich kritische Blogger und Internet-Communities gegen so etwas schützen?Ich denke, es sollte eine Art Rapid Response – Gruppe von Experten geben, die NGOs und Bloggern in Krisenzeiten technisch unterstützen, bei einem Angriff beispielsweise helfen, eine Webseite zu einem anderen Server zu verlagern. Zu solchen Attacken kommt es ja meist in politisch prekären Situationen, etwa am Tag der Urteilsverkündung gegen Chodorkowski oder während der letzten Wahlen in Weißrussland. Aber gerade an solchen Tagen müssen oppositionelle Medien erreichbar sein.In Ihrem Buch kritisieren Sie eine Haltung, die Sie „Slacktisvism“ nennen (etwa: „Aktivismus der Faulenzer“) – symbolischer Protest, der sich beispielsweise darin erschöpft, dass Internetnutzer einer Facebook-Gruppe beitreten und ansonsten nichts tun .Ich bezweifle überhaupt nicht, dass digitale Aktionsformen nützlich sein können. Aber wir müssen uns klar machen, dass ihre Wirksamkeit begrenzt ist. Regierungen werden nicht durch Twitter gestürzt. Es ist falsch, alle Ressourcen in Internetkampagnen zu stecken. In einem Land wie Weißrussland müssen Aktivisten von Tür zu Tür gehen und ihre Nachbarn überzeugen! Ich fürchte, dass in einem solchen Umfeld der modische und bequeme Online-Aktivismus mehr schadet als nutzt.