Es gibt Menschen, die glauben, dass sich die Welt durch Julian Assange nicht verändern wird. Eines jedoch hat er zweifelsohne geleistet: Er hat ihr in den vergangen 15 Monaten viel zu diskutieren gegeben – die Toll-Collect-Verträge, die Massaker an afghanischen und irakischen Zivilisten, das Getuschel US-amerikanischer Botschafter, einen Streit um den Nutzen von Verrätern für die Demokratie. Nicht zuletzt gehören auch die Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn selbst dazu. Die Gegenstände dieser Debatten unterscheiden sich stark. Doch welche Position die Teilnehmer darin einnehmen, hängt von ihrer Antwort auf nur eine Frage ab: Können wir Wikileaks vertrauen? Dabei geht es um das Vertrauen in Assange und seine Organisation, vor allem aber
Politik : 15 Monate Ruhm
Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz: Können wir Wikileaks vertrauen? Sechs neue Bücher über die Enthüllungsplattform geben drei Antworten
Von
Steffen Kraft
ber um das in die Idee einer radikal transparenten Gesellschaft.Wer für sich eine Antwort finden will, kann derzeit auf sechs Neuerscheinungen zurückgreifen: den „Enthüllungsreport“ des Aussteigers Daniel Domscheit-Berg, ein Porträt Assanges aus dem Scorpio-Verlag, ein Debattenband der Edition Suhrkamp und jeweils ein Werk von Journalisten der Wikileaks-Medienpartner Spiegel, Guardian und New York Times.Der verlorene FreundSpätestens seitdem Domscheit-Berg Wikileaks im Herbst 2010 verlassen hat, ist das Wohl und Wehe der Enthüllungsplattform allein von ihrem australischen Gründer abhängig. Schon allein deshalb lässt sich die Frage, wie vertrauenswürdig das Projekt ist, nicht von der Frage trennen, wie vertrauenswürdig Assange selbst ist. Kritiker mögen Domscheit-Berg vorwerfen, er wolle sich an seinem Freund rächen, wenn er detailliert erzählt, wie sich Assange über Jahre auf fremden Sofas durchschnorrte, eine Katze quälte und später jeden Erfolg für sich reklamierte, selbst wenn seine Mitstreiter Wikileaks mehr als einmal vor den beinahe katastrophalen Folgen seiner Schludrigkeit retten mussten. Wahrscheinlich trifft diese Kritik sogar zu. Sie übersieht jedoch, dass das Geschäft mit sensiblen Informationen gerade von einer Freiwilligenorganisation eine Professionalität erfordert, die persönliche Schwächen ihrer Mitglieder weitgehend neutralisieren sollte.Sicher spricht aus vielen Seiten des Buchs die Enttäuschung Domscheit-Bergs über mangelnde Anerkennung durch seinen verlorenen Freund. Wichtiger erscheint jedoch die Erkenntnis, dass die Zusammenarbeit der beiden Computerexperten letztlich scheiterte, weil ihre Perspektiven unvereinbar waren: Assange begriff Wikileaks als ein Schiff auf stürmischer See, das unter Dauerfeuer ad hoc ausgebessert und umgebaut werden musste. Domscheit-Berg hingegen verstand das Projekt als Haus, das zunächst auf Sand gebaut worden war, bewohnt nur von „zwei extrem großmäuligen jungen Männern mit einer Uralt-Maschine“. Sie hatten eine Zeit lang erfolgreich geblufft, sollten aber dringend eine dauerhaft stabile Struktur aufbauen. Wenn Domscheit-Berg sich mit seinem neuen Projekt openleaks.org darauf beschränken will, die Webseiten von interessierten Medien und Organisationen mit elektronischen Briefkästen für Whistleblower zu versehen, dann ist dies nur aufgrund dieser Erfahrungen zu verstehen.Sein Buch ist für sich durchaus verständlich, den größten Genuss werden aber jene Leser daraus ziehen, denen die Entwicklung von Wikileaks zumindest in Grundzügen bekannt ist. Der Scorpio-Band wiederum erzählt diese Geschichte zum größten Teil aus öffentlich zugänglichen Quellen brav und recht genau nach. Die Autoren geben auch eine erste Antwort auf die Frage, ob Wikileaks Vertrauen verdient. Es ist eine ähnliche wie die von Domscheit-Berg: Assange ist ein genialer, aber arroganter Autokrat, der die inneren Widersprüche des Projekts nicht erkennen, geschweige denn beseitigen will – und droht, Wikileaks mitsamt der fabelhaften Idee, für die es steht, in den Abgrund zu reißen.Zwar beschreiben auch die Autoren des Spiegel und des Guardian Assange als paranoid und aufbrausend, wollen es dabei jedoch nicht belassen. Sie schildern in erster Linie, was sich hinter den Türen während der Vorbereitungen zu den jüngsten Veröffentlichungen zutrug: viel konspirative Analysearbeit, ein Versuch Assanges, sich als grauhaarige Oma zu verkleiden, und seinen Wunsch, die New York Times aus dem Spiel zu drängen, weil die Zeitung ein missliebiges Porträt des Australiers gedruckt hatte. Sie deuten dabei auch an, dass Domscheit-Berg wohl schon Anfang 2010 weiter entfernt vom Kern der Organisation stand, als viele Journalisten glaubten – und er sich selbst eingestanden hat.Aktivist unterm HaarteilDie beiden Bücher der Wikileaks-Partner erzählen weitgehend das Gleiche, unterscheiden sich aber in Aufbau und Genre. Wo die britischen Journalisten ein Buch geschrieben haben, dass zwischen Agententhriller und nüchternem Bericht changiert, liefern ihre deutschen Kollegen einen Spagat zwischen Report und Reflektion. Dennoch lesen sich die Bücher passagenweise als hätten die Autoren die Schreibarbeit untereinander aufgeteilt oder zumindest ihre Manuskripte über das gemeinsam Erlebte abgeglichen.Die Redakteure teilen jedenfalls die Einschätzung, dass sich der Hype um das Whistleblowing im Netz abschwächen wird. „Der von Wikileaks proklamierte Anspruch der radikalen Transparenz wird sich nicht durchsetzen“, schreiben die Spiegel-Autoren. Dennoch seien Whistleblower-Seiten als Faktor in Journalismus und Politik inzwischen nicht mehr wegzudenken: „Wikileaks oder ähnliche Angebote wird es weiter geben.“ Zumindest könne sich so ein klareres Verständnis dafür herauskristallisieren, „welche Informationen von öffentlichem Interesse sind und wo der schützenswerte Kern des Privaten beginnt“, lautet ihr verhalten optimistisches Resümee.Skeptischer wollen dagegen die Sammelbände des Suhrkamp-Verlags und der New York Times stimmen. „Hat Wikileaks den Journalismus für immer verändert? Wahrscheinlich. Oder vielleicht war es umgekehrt“, schreibt der Medienkolumnist David Carr. Das nur als E-Book erhältliche Werk vereint die bisher wichtigsten Veröffentlichungen des New Yorker Blattes zu Wikileaks. Darin lässt sich auch jenes Porträt nachlesen, das den Transparenz-Aktivisten Assange derart erzürnte, dass er der Zeitung die Diplomaten-Kabelnachrichten vorenthielt. Als Guardian-Redakteure den amerikanischen Kollegen aushalfen, drohte er, auch die Kooperation mit dem Partner aus London einzustellen. Offenbar brachte Assange erst ein Satz von Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo wieder zur Vernunft: Sein Magazin werde ebenfalls auf die Zusammenarbeit verzichten, wenn Wikileaks wirklich die anderen Blätter ausschließe.Zweifel an einem GetriebenenBesonderes Augenmerk haben in den beiden Sammelbänden aber die Beiträge zu den Folgen von Wikileaks auf das Geschäft von Geheimdiplomatie und -politik verdient. Die Artikel aus der New York Times fokussieren naturgemäß auf die kurz- und mittelfristigen Wirkungen in den USA und auf ihre Regierung. Für den Suhrkamp-Band konnten dagegen einerseits Übersetzungen vorzüglicher englischer Beiträge gewonnen werden, etwa das „Porträt eines Getriebenen“ aus dem Magazin The New Yorker. Andererseits kommen hier einige gewichtige Autoren aus dem Establishment der deutschen Außenpolitik zu Wort.So argumentiert etwa Wolfgang Ischinger – Ex-Diplomat und heute Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz –, dass in die Öffentlichkeit gezerrte Vertraulichkeiten zu strikterer Geheimhaltung führen werde anstatt zu weniger. Auch der Leiter der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, schreibt: „Einige derer, die offen mit amerikanischen Botschaftsvertretern gesprochen haben, mögen sich im nachhinein auf die Zunge gebissen haben.“ Perthes erwähnt allerdings nicht, dass er selbst zu dieser Gruppe gehört. Wie der Guardian am 18. Januar 2011 berichtete, hatte der Chef der bundesregierungsfinanzierten Denkfabrik den USA Anfang 2010 empfohlen, iranische Atomanlagen zu sabotieren. Zwar griffen in Deutschland vor allem Blogs die Meldung auf, die herkömmlichen Medien schwiegen mehrheitlich. Dennoch musste die Stiftung die Sicherheitsmaßnahmen für ihr Gebäude in Berlin zeitweise erhöhen.Lässt sich Wikileaks also vertrauen? Die Autoren von Suhrkamp und New York Times geben eine dritte, eine pessimistische Antwort auf diese Frage: Die von Assange propagierten Ideale seien unrealistisch. Ein Abgleich mit der Wirklichkeit zeige, dass sie mitunter sogar gefährlich sein können. Auch wenn vielen mehr Transparenz wünschenswert erscheine, führe sie nicht zwangsläufig zu besseren politischen Entscheidungen.Wer hinter einer solchen Tendenz nicht sofort einen getarnten Abwehrreflex der politischen Klasse gegen ihre Vormacht sieht, wer also das Zweifeln noch nicht verlernt hat, wird beide Sammelbände mit Gewinn lesen. Vor allem das Suhrkamp-Buch bringt die Kritik an Assanges Organisation prägnant, aber nüchtern auf den Punkt.Neben der Fleißarbeit aus dem Scorpio-Verlag zeichnen naturgemäß die Werke der beteiligten Beobachter plastischere Bilder. Allen voran entwirft Daniel Domscheit-Berg eine erschreckend anschauliche Skizze des Menschen Julian Assange. Wie weit dieser oder anderen Schilderungen allerdings zu trauen ist, sollte der Leser nicht vor April entscheiden: Dann kommt die Autobiografie des Wikileaks-Gründers in die Buchläden.