Der Atomexperte Michael Sailer über die Kernschmelze in Fukushima, die Sicherheit von Atomkraftwerken in Deutschland und Vergleiche mit dem Unglück von Tschernobyl
Der Freitag: Herr Sailer, ist Fukushima potenziell gefährlicher als der Reaktor von Tschernobyl?
Michael Sailer:
Wir haben sicher mehr als 1.000 Tonnen radioaktive Brennstoffe in Fukushima. Das radioaktive Inventar ist damit sehr viel höher als in Tschernobyl. Zusätzlich zu den Reaktoren erhöhen sieben Lagerbecken für Brennelemente das Gefährdungspotenzial. Aus mehreren Jahrzehnten Betrieb liegen die abgebrannten Brennelemente noch auf der Anlage.
Wie schätzen Sie den Zustand der Druckgefäße in den drei kollabierten Reaktoren ein? Wie lange können die Stahlbehälter dem glühenden Brei der Kernschmelze noch standhalten?
Das wissen wir nicht. Es gibt weder Messgeräte noch Überwachungskameras. Wir können nur auf theoretis
i der Kernschmelze noch standhalten?Das wissen wir nicht. Es gibt weder Messgeräte noch Überwachungskameras. Wir können nur auf theoretische Studien zurückgreifen. Wir wissen, dass die Kernschmelze, wenn sie sich wegen fehlender Kühlung immer weiter aufheizt, irgendwann als flüssige Masse bei Temperaturen von mehr als 2.000 Grad in die Tiefe fällt und auf der Stahlwand des Reaktordruckbehälters liegt. Dort kann sie sich durch das Material fressen, denn Stahl schmilzt bei Temperaturen von 1.000 Grad.Die Kernschmelze würde sich dann in die Erdkruste hineinbohren?Wenn sie nach unten durchschmilzt, wäre es das China-Syndrom. Gegenüber einem Ausbruch nach oben ist es die harmlosere Freisetzung.Ist die Zerstörung des Stahls zwangsläufig oder kann er, wie bei der AKW- Havarie 1979 in Harrisburg, vielleicht doch standhalten?Die Lage war damals völlig anders. Dort ist es nach einigen Stunden gelungen, die Kühlung über stromversorgte Systeme des Reaktors wieder in Gang zu setzen.Das könnte in Fukushima, nachdem jetzt wieder Strom für die Kühlsysteme verfügbar ist, vielleicht auch gelingen. Was passiert, wenn in den Druckgefäßen kaltes Wasser auf die glühende Kernschmelze trifft? Kann es zu einer Explosion kommen?Diese Frage kann niemand beantworten. Klar ist allerdings, dass sich ohne Kühlversuche die Schmelze durch den Reaktor frisst und es zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität kommt. Man steht immer vor der Frage: Gibt man auf oder versucht man Notlösungen, von denen man nicht weiß, ob sie funktionieren.Wie ist die Lage in den vier Brennelemente-Becken?Normalerweise liegen die Brennelemente unter einer sieben Meter hohen Wasserüberdeckung. Ohne Wasser heizen sich die Brennelemente auf und das Zirkon, mit dem die Brennstäbe ummantelt sind, brennt irgendwann ab. Dann werden von den Uran-Tabletten, mit denen die Hüllrohre gefüllt sind, radioaktive Partikel nach außen getragen. Das ist eine der Ursachen für die gemessene Radioaktivität.Die US-Atomaufsicht hat kritisiert, dass sich die Krisenmanager vor Ort zu wenig um die Brennelemente-Becken kümmern und zu sehr auf die Reaktoren fixiert sind.Man muss versuchen, alles zu kühlen: sowohl die drei stark beschädigten Reaktoren als auch die vier überhitzten Brennelementlagerbecken. Und man muss sich auch noch um die drei weiteren Brennelemente-Lager kümmern, die sich auf dem Gelände befinden. Jeder einzelne Gefahrenherd kann zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität führen. Gelungen sind die Notmaßnahmen erst, wenn all diese Gefahrenpotenziale wieder gekühlt werden.Können durchgebrannte Reaktoren denn mit Wasserspritzen der Feuerwehr gekühlt werden?All diese Maßnahmen sind Notbehelfe. Nächste Woche wird man besser beurteilen können, ob es geholfen hat.Wenn es nicht ausreicht und es bei einem der Reaktoren oder einem der Brennelementelager zu einer massiven Freisetzung von radioaktiver Strahlung kommen sollte: Müssen dann alle Katastrophenhelfer abgezogen werden?Wenn ein Reaktor durchschmilzt und wir nach einer massiven Freisetzung dauerhaft radioaktive Werte von mehreren hundert Milli-Sievert haben sollten, kann sich dort niemand mehr aufhalten. Die Strahlung würde nach wenigen Stunden zum Tod führen.Dann müsste der Standort aufgegeben werden?In solch einem Fall könnte man am Standort nicht mehr arbeiten.In Tschernobyl wurden aus der Luft Bor und andere Materialien auf den Reaktor geworfen. Ist das in Fukushima eine Option?Solange man noch Hoffnung hat, dass die Kühlversuche funktionieren, solange müssen Reaktoren und Brennelemente-Becken auch zugänglich sein. Sobald ich massiv Erde, Beton und andere Materialien abwerfe, kann ich nicht mehr kühlen. Eine sehr schwierige Entscheidung.Wird Fukushima später unter einem Sarkophag beerdigt wie Tschernobyl?Es ist viel zu früh, diese Frage zu beantworten. Natürlich kommen immer wieder Gerüchte hoch und dann schwirrt der Begriff Sarkophag durch die Medien. Aber das ist jetzt nicht das Thema.Sind Sie eigentlich mit der Informationspolitik zufrieden?Die Informationspolitik in Deutschland ist gut. Kein Vergleich zu Tschernobyl, als willkürlich Grenzwerte festgesetzt wurden und die Leute falsch informiert wurden, als die Wolke kam. Sowohl für Fachleute als auch für die Bevölkerung sind die Informationen gut verfügbar. Aber niemand kann in die Druckgefäße hineinsehen.Wie bewerten Sie den Faktor Zeit? Spitzt sich die Lage mit jedem weiteren Tag zu, weil die Kühlung noch immer nicht funktioniert? Oder bringt jeder neue Tag leichte Besserung?Wenn durch die Notmaßnahmen mehr gekühlt wird, als neue Wärme entsteht, dann ist das ein guter Tag. Wenn weniger abgekühlt wird als Wärme entsteht, verschärft das die Gefahr.Weltweit werden nach Fukushima die Sicherheitsvorschriften verschärft. Ist ein Reaktor konstruierbar, der einer Kernschmelze standhält?Bei neu gebauten Reaktoren kann man zunächst bessere Notfall-Einrichtungen gegen bestimmte Unfall-Szenarien einplanen. Den absolut sicheren Reaktor gibt es nicht. In Finnland versucht man beim Neubau des Kernkraftwerks Olkiluoto, den Reaktor besser gegen eine Kernschmelze zu wappnen. Aber die Kosten laufen aus dem Ruder, die Bausumme ist mehr als doppelt so hoch wie geplant.Schüren neue Sicherheitsauflagen nicht die Illusion, dass die Meiler gegen Unfälle gefeit sind?Jede Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen bringt auch ein wenig mehr Sicherheit. Aber keinen absoluten Schutz. Behörden können nur mit Vorschriften arbeiten. Kernkraftwerke, die in Deutschland weiter laufen sollen, müssen auf jeden Fall besser auf Notfälle vorbereitet werden.