Die Regierungen der EU sind zu Gefangenen der Finanzmärkte geworden. Der 2005 vollzogene kategorische Schuldenschnitt Argentiniens zeigt, dass es auch anders geht
Es gibt ein Leben nach dem IWF – und das wird ein gutes sein.“ Mit diesen Worten hat der ehemalige argentinische Präsident Néstor Kirchner vor Jahren die neu gewonnene Unabhängigkeit seines Landes vom Internationalen Währungsfonds gefeiert. Ende 2005 konnte Argentinien seine Schulden dort vorzeitig tilgen, nur wenige Monate nach dem radikalen Schuldenschnitt, mit dem die Regierung den privaten Gläubigern den Verzicht auf etwa zwei Drittel ihrer Forderungen abgerungen hatte. Eine jahrzehntelange Abhängigkeit von den politischen Vorgaben des IWF ging damit zu Ende. Estela de Carlotto, die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo, jubelte: „Wir haben mit einem Monster Schluss gemacht, das uns unterdrückt hat.“
Dieses R
ieses „Monster“ ist mittlerweile in der europäischen Peripherie angekommen. Zusammen mit der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission tritt es in den überschuldeten EU-Ländern als „Troika“ auf, formuliert Bedingungen für Hilfskredite und überprüft ihre Umsetzung. Das Strickmuster der Vorgaben gleicht dem, das Argentinien in die schwerste Krise seiner Geschichte geführt hat: unsoziale Kürzungsprogramme, Privatisierung, Deregulierung. Dazu gäbe es keine Alternative, sagen die Vertreter der Troika, ein partieller Schuldenerlass, etwa für Griechenland, würde das Land für lange Zeit vom Kapitalmarkt ausschließen, mit verheerenden Folgen für Griechenland und ganz Europa. Muss sich Europa also den Finanzmärkten, der Troika und den Rating-Agenturen unterordnen, wenn es keine schwere Krise in Kauf nehmen will? Das Beispiel Argentinien zeigt, dass es durchaus möglich ist, den Spieß umzudrehen.Hochgradig „dollarisiert“In finanzieller Hinsicht steht Argentinien heute solider da als die meisten EU-Staaten. Die Staatsverschuldung liegt bei 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Griechenland: 158 Prozent. Deutschland: 83 Prozent. Das hätte vor zehn Jahren, als das Land in größter Not den Staatsbankrott erklären musste, niemand für möglich gehalten. Unter dem Einfluss des IWF waren Staatsbetriebe verkauft, Importzölle gesenkt, Handelshemmnisse abgebaut, Arbeitsgesetze flexibilisiert worden. Statt der erhofften „Sanierung“ führten diese Maßnahmen immer tiefer in die Krise. Das Handelsbilanzdefizit stieg, durch die Privatisierungen beschleunigte sich die Kapitalflucht, die Verschuldung wuchs. Verstärkt wurden diese Ungleichgewichte durch die Überbewertung des Peso, den die Regierung fest an den Dollar gebunden hatte, um die Inflation zu bekämpfen.Von 1998 bis 2002 rutschte Argentinien in die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Ende 2001 kam es zu massiven Protesten, Unruhen und Plünderungen durch die verarmte Bevölkerung. Die Protestbewegung jagte den Präsidenten Fernando de la Rúa aus dem Amt. Am 23. Dezember 2001 musste Argentinien den Staatsbankrott erklären. IWF und private Gläubiger stoppten ihre Zahlungen. Die Aufhebung der Dollar-Bindung des Peso führte zu einer massiven Abwertung. Guthaben auf argentinischen Banken verloren dabei zwei Drittel ihres Wertes. Da die argentinische Wirtschaft hochgradig „dollarisiert“ war, kam es zum Kollaps. Viele Unternehmen mit Devisenschulden im Ausland mussten Konkurs anmelden, die Armutsrate stieg zwischen 2000 und 2002 von 33,4 auf 53 Prozent.Anfang 2003 übernahm Néstor Kirchner, ein Peronist sozialdemokratischer Prägung, die Regierung. Gegen den heftigen Widerstand von Teilen der Wirtschaft setzte er auf eine aktive Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, auf öffentliche Investitionen, Arbeits- und Sozialprogramme, doch musste dafür das Schuldendebakel beendet werden. So begann im Februar 2005 eine der größten Umschuldungsaktionen der jüngeren Finanzgeschichte. Von insgesamt 190 Milliarden Dollar Auslandsschulden wurden knapp 82 Milliarden in neue Anleihen mit niedrigerem Nennwert, längeren Laufzeiten und niedrigeren Zinsen umgewandelt. Die Kapitalabschreibung lag im Schnitt bei etwa 66 Prozent. Die Besitzer der Anleihen konnten also nur ein Drittel ihrer Ansprüche retten. Da die Regierung in Buenos Aires jedoch glaubhaft vermittelte, es werde kein besseres Angebot geben, nahmen mehr als drei Viertel der Gläubiger das Angebot zur Umschuldung an. Kirchner hatte jetzt eine finanzielle Grundlage für seine interventionistische Politik. Über Exportsteuern profitierte der Staat von den steigenden Weltmarktpreisen für die wichtigsten Exportgüter Soja und Weizen. Zwischen 2003 und 2008 lag das Wachstum bei durchschnittlich acht Prozent, während die Armutsrate von 53 auf 13,5 Prozent sank.Wie reagierten nun die Finanzmärkte auf diesen Schuldenschnitt? Viele Ökonomen hatten nach dem „Haircut“ prophezeit, dass Argentinien nun für lange Zeit vom Kapitalmarkt abgeschnitten sei. Doch kurz nach Abschluss einer ersten Phase der Umschuldung, im Juni 2005, hob die Rating-Agentur Standard Poor’s die Bonität Argentiniens um sechs Stufen an, auf „B-“, mit der erstaunlichen Begründung – die Schuldenlast des Landes sei nach der Umschuldung deutlich reduziert. Analysten der Investmentbank Merrill Lynch rieten zum Kauf von Argentinien-Bonds. Bereits im September 2005 legte Argentinien neue Staatsanleihen für internationale Anleger in Höhe von 800 Millionen Dollar aus. „Die hohe globale Liquidität und die trotz der jüngsten Zinserhöhungen immer noch niedrigen langfristigen Zinsen bieten ein günstiges Szenario für weitere Emissionen“, versuchte seinerzeit das Handelsblatt dieses unerwartete Comeback auf den Kapitalmärkten zu erklären. Manchem Wirtschaftsvertreter war angesichts dieses Erfolges ganz mulmig zumute. So zitierte das Handelsblatt Walter Molano von BCP Securities mit den Worten: „Die scheinbare Lektion der argentinischen Schuldenrestrukturierung ist, dass Regierungen ihren Gläubigern willkürlich die Bedingungen aufzwingen können, unabhängig von ihrer Zahlungskapazität.“Tatsächlich zeigt das Beispiel Argentiniens, dass sich Regierungen gegen den Druck der Finanzmärkte behaupten können. Märkte sind nicht nachtragend: Wenn die Politik ihnen unausweichliche Vorgaben macht, passen sie sich den neuen Bedingungen an. Argentiniens Umschuldung ist bis heute nicht abgeschlossen. Mit den restlichen Privatgläubigern wird noch verhandelt, ebenso mit dem Pariser Club der reichen Gläubigerländer. Dennoch gehörten argentinische Staatsanleihen 2010 zu den begehrtesten und ertragreichsten weltweit. Der einzige Nachteil für Argentinien ist heute ein Risikoaufschlag bei Neuemissionen von etwa fünf Prozent, im Vergleich zu einem bis zwei Prozent für Länder wie Brasilien oder Chile. Das hat aber den positiven Nebeneffekt, dass die argentinische Regierung mit neuen Schulden zurückhaltend ist und stattdessen auf eine solide Haushaltspolitik setzt.Um diesen radikalen Schuldenschnitt durchzusetzen, musste Präsident Kirchner eine harte Konfrontation mit internationalen Finanzinstitutionen und privaten Gläubigern eingehen. Seine Stärke bezog er daraus, die große Mehrheit der argentinischen Bevölkerung hinter sich zu wissen – der Schuldenschnitt war Teil eines umfassenden politischen Neubeginns. Bezogen auf Griechenland lässt sich daraus einiges lernen. Die Märkte bewerten vor allem die aktuelle wirtschaftliche Lage und die Solidität der Haushalte. Deshalb wurde die Bonität Argentiniens unmittelbar nach dem Schuldenschnitt auf „B-„ hochgestuft, während die Anleihen des getreulich seinen Schuldendienst leistenden Griechenland mittlerweile auf Ramschniveau „CCC“ liegen.Fair und transparent Wachsende Verschuldung, in Kombination mit einer rezessiven „Sparpolitik“, ist auf Dauer ruinös. Unter solchen Vorzeichen wird sich Griechenland nicht zu akzeptablen Konditionen über die Kapitalmärkte refinanzieren können. Das gilt auch dann, wenn einige Gläubigerbanken Laufzeiten verlängern, wie es teilweise jetzt geschieht. An einer Reduzierung der griechischen Schulden auf ein langfristig tragfähiges Niveau führt kein Weg vorbei. Doch das allein genügt nicht. Ähnlich wie in Argentinien bringt ein Schuldenschnitt nur dann eine nachhaltige Lösung, wenn er mit einem politischen Umbruch verbunden ist – wenn eine gescheiterte neoliberale Orientierung abgeschrieben und die Demokratie erneuert wird. Das heißt, es muss einen geregelten Entschuldungsprozess in Form eines fairen und transparenten Schiedsverfahrens geben, in dem Gläubiger und Schuldner gleichermaßen vertreten sind. Für die Betroffenen, für Institutionen der Zivilgesellschaft, gäbe es Anhörungsrechte. Die Schulden würden auf ein verkraftbares Niveau reduziert, aber auch Fragen der notwendigen sozialen und politischen Reformen, der Korruption und der Kapitalflucht könnten behandelt werden.Für Griechenland, aber auch andere europäische Schuldnerländer wäre ein solches Verfahren eine wirkliche Chance. In einem längerfristigen Prozess müssten dabei immense Summen abgeschrieben werden. Viel Geld würde gebraucht, um das europäische Bankensystem zu stabilisieren und zu restrukturieren. Doch wären diese Mittel gut investiert, nicht nur im Sinne der finanzpolitischen Stabilität: Durch die Beteiligung der Zivilgesellschaften und eine offene Debatte über Verantwortlichkeiten, finanzielle Verflechtungen und den politischen Erneuerungsbedarf hätte auch die Demokratie in Europa wieder eine realistische Perspektive.