Ampeln und Schilder fehlen. Autos, Radler und Fußgänger teilen sich die Straße. Zu unsicher? Der Ort Bohmte in Niedersachsen hat den erfolgreichen Gegenbeweis angetreten
Anarchie ist machbar, zumindest im Verkehr. Mobilität ohne Ampeln und Schilder führt nicht unbedingt ins Chaos: Fußgänger, Radler und Autofahrer teilen sich eine einzige Straße – die Zahl der Unfälle explodiert trotzdem nicht. Wie das gehen kann? Der niedersächsische Ort Bohmte macht es vor.
Dahinter steckt Psychologie: Fühlen sich die Verkehrsteilnehmer verunsichert, achten sie mehr auf die anderen, suchen den Blickkontakt. Gefühlte Unsicherheit schlägt um in objektive Sicherheit. Diesen Trick macht sich das Verkehrskonzept „Shared Space“ zunutze. Geteilter Raum – das heißt, hier gibt es eine Straße für alle: vom tonnenschweren Lkw bis zur Oma mit ihrem Gehwägelchen. Zeichen und Regeln fehlen weit
ehlen weitestgehend, „Rechts vor Links“ gilt aber weiterhin.Was dabei herauskommt, kann in Bohmte besichtigt werden. Auf einer Strecke von 400 Metern wurde die Hauptstraße quer durch die Stadt zum Shared Space: kein Bordstein, kein Verkehrsschild, keine Ampel. Kein Mittelstreifen, kein Seitenstreifen, kein Zebrastreifen. Nicht einmal ein Hinweisschild. Dafür ist die Fläche mit rotem Klinker gepflastert, sie sieht aus wie eine Fußgängerzone und ist zugleich Autostraße, Fahrradweg und Bürgersteig.Ungezählte NachahmerBohmte war der erste Ort in Deutschland, der zum Versuchslabor für das neue Verkehrskonzept wurde, das aus den Niederlanden stammt. Mittlerweile gibt es mehrere Nachahmer in anderen Teilen Deutschlands. Eine Übersicht gibt es nicht, außerdem ist eine Abgrenzung zu ähnlichen Konzepten wie der „Begegnungszone“ schwierig. Je nach Definition schwankt die Städtezahl zwischen einem Dutzend und mehreren Hundert.Es gibt einen Grund für die Ausbreitung: allgemeine Zufriedenheit mit Shared Space. Der Bund der Fußgänger freut sich über das neue Miteinander genauso wie der Allgemeine Deutsche Fahrradclub. Selbst die Autofahrerlobby vom ADAC spricht sich für weitere Pilotversuche aus. Und in Bohmte kommt man aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Der Umbau der Hauptstraße sei „durchgehend als Erfolg zu bezeichnen“, sagt Sabine De Buhr-Deichsel, die in der Stadtverwaltung für das Projekt zuständig ist. Keine Staus mehr, weniger Lärm, weniger Abgase. Auch die Bürger sind zufrieden: Bei einer Umfrage haben drei von vier Passanten das neue Verkehrskonzept als Erfolg bezeichnet.Selbst die Unfallstatistik scheint den Befürwortern Recht zu geben. Das Verkehrsinstitut Logis aus Osnabrück hat im Auftrag der Stadt Bohmte das Shared-Space-Projekt ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis: Unfälle mit leichtem Sachschaden kommen zwar wesentlich häufiger vor, mehr Personenschäden gibt es aber nicht.Doch es gibt auch kritische Stimmen. Einige Experten glauben, die Sicherheit könne auch an anderen Maßnahmen liegen – etwa an Kreisverkehren, wo früher Kreuzungen lagen. Auch sei die Einrichtung von Shared-Space-Zonen so aufwendig, dass man mit dem Geld auch andere Maßnahmen finanzieren könne, die zur Sicherheit beitragen."Positiv oder zumindest nicht negativ"Bernhard Schlag glaubt trotzdem an den Nutzen der geteilten Räume. „Unter dem Strich sind die Befunde positiv oder zumindest nicht negativ“, sagt der Verkehrspsychologe von der Technischen Universität Dresden. Die Ursache sieht er vor allem in der niedrigeren Geschwindigkeit der Autos – und die könne auch durch andere Maßnahmen erreicht werden. An seinem Lehrstuhl sind Versuchspersonen in einen Fahrsimulator drei Strecken abgefahren: eine normale Straße, einen Shared-Space-Bereich und eine Tempo-20-Zone. Am langsamsten waren die Autos bei einer vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzung. „Vielleicht kommt das den Wünschen nach Regeln näher, die viele Verkehrsteilnehmer haben“, sagt Schlag.Ohne Verkehrsschilder könnte sich ein weiteres Problem ergeben: Wenn Shared Space in ganz Deutschland bekannt ist und sich die Autofahrer daran gewöhnt haben, vielleicht verschwindet dann mit der Verunsicherung auch die Rücksichtnahme. „Ich hoffe nicht, aber ganz ausgeschlossen ist das nicht“, gibt Schlag zu bedenken. Um darauf eine Antwort geben zu können, müsse Shared Space über eine längere Zeit wissenschaftlich untersucht werden.Genügend Orte dürfte der Forscher finden: Immer mehr Städte probieren das neue Verkehrskonzept aus – dabei ist umstritten, wo es sich überhaupt anbietet. Klar ist nur: Shared Space ist kein Allheilmittel für sämtliche Verkehrsprobleme. Der Autoclub ADAC empfiehlt Straßen, auf denen maximal 4.000 Fahrzeuge pro Tag rollen. Zum Vergleich: Durch Bohmte fahren über 12.000 Wagen.Bernd Irrgang vom Bund der Fußgänger meint, der geteilte Raum eigne sich in „verkehrsberuhigten, kleineren Orten, aber keinesfalls in Städten“. Ansonsten würden die Radler das Tempo vorgeben, die Autofahrer müssten aufpassen und achteten nicht mehr auf die Menschen, die zu Fuß unterwegs sind.Um die Geschwindigkeit der Autos zu drosseln, können schmale Straßen helfen, meint Verkehrspsychologe Schlag. „Man muss baulich dafür sorgen, dass langsamer gefahren werden muss.“ Nur dann sei Blickkontakt möglich und die Sicherheit gewährleistet. Eine große freie Fläche allein sorge noch nicht dafür, dass die Autos verantwortungsvoll und langsam fahren.Parkplätze sind umstritten. Parkende Autos könnten die Sicht versperren, sagen die Skeptiker. Viele Geschäfte wollen aber nicht auf Parkplätze vor ihrer Tür verzichten – ein Hindernis für die Einführung von Shared Space? „Bei uns ist nirgends Parkverbot“, berichtet De Buhr-Deichsel von der Stadt Bohmte. Autofahrer dürften bloß nicht mitten auf der Straße parken. „Bei uns gibt es da keine Probleme.“Bruch mit dem Diktat des AutosAuch die Kosten halten sich offenbar in Grenzen. Der Umbau zu einer Shared-Space-Zone sei „nicht teurer als normale Straßenbaumaßnahmen“, sagt De Buhr-Deichsel. Bohmte habe allerdings draufgezahlt, weil für die Straße eigentlich das Land Niedersachsen zuständig sei. Den Umbau wollte man in Hannover aber nicht zahlen. Bohmte hat rund eine Million Euro zugeschossen, der Rest kam aus Fördergeldern, unter anderem von der EU.Geld, Ruhe, Sicherheit – aber eigentlich geht es bei Shared Space um etwas anderes, meint Verkehrspsychologe Schlag. Um einen Bruch mit dem Diktat des Autoverkehrs. Schlag spricht dann von der „Aneignung des innerstädtischen Raums“ auch für Fußgänger. Die Stadt soll wieder lebenswerter, ein Ort der Begegnung werden. „Es geht um die Rückgewinnung des alten Dorfplatzes.“