Faxe kann es nicht fassen. Wochenlang stand er in seiner blauen Latzhose auf der Straße und hat Leute angesprochen. Er hat den Berlinern versprochen, dass die Piratenpartei die Politik transparenter, offener, demokratischer machen wird. Und jetzt das. Drei der 15 frischgewählten Mitglieder der Piraten-Fraktion verlangen plötzlich, dass man sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit treffen soll. „Fangen wir schon an, unsere Prinzipien über Bord zu werfen?“, fragt Gerwald Claus-Brunner, 39, Spitzname: Faxe. Eigentlich wollte der Mechatroniker, der ohne seinen Blaumann nicht vor die Tür geht, von Oktober an Maschinenbau studieren. Jetzt muss er sich erst mal an die Herausforderungen gewöhnen, die das Leben als Berufspolitiker so mit sich bringt.
Es
.Es ist Montagabend. Viele der Piraten, die zur ersten Parteiversammlung nach der Wahl in die Geschäftsstelle „P9“ gekommen sind, tragen noch die gleichen Klamotten wie vergangene Nacht. Da hatten die Leute im Fernsehen bestätigt: Die Piraten ziehen mit 8,9 Prozent ins Berliner Landesparlament ein. Viel geschlafen hat danach niemand. Und nun müssen sie diskutieren, wie weit sie ihre Kernforderung nach mehr Transparenz in der Politik auf sich selbst anwenden. „Hallo? Wir setzen uns gegen Überwachungskameras ein, weil das Gefühl beobachtet zu werden, Menschen befangen macht. Und jetzt sollen wir uns selbst einer Dauerkontrolle aussetzen?“, schimpft Christopher Lauer, der im Bundesvorstand der Partei sitzt und ebenfalls bald Abgeordneter wird. Dann setzt Piraten-Spitzenkandidat Andreas Baum erst einmal eine Zigarrettenpause an. Nicht, dass sich die Gemüter noch weiter erhitzen.1979 zogen grüne Politiker erstmals in ein deutsches Landesparlament ein, in Bremen. Vier Jahre später saßen die Grünen mit Strickpullis und Zottelbärten im Bundestag. Seither sind sie aus dem Politikbetrieb nicht mehr wegzudenken. 2011 haben die Wähler erneut eine Partei in ein Parlament geschickt, die konventionellen Debatten, Arbeitsweisen und Kleidervorschriften in Frage stellt – nur dass deren Mitglieder diesmal Blaumann, orangefarbene Hemden und schwarze Kapuzenpullis tragen. In der Tat sind bei den Piraten gewisse Parallelen zu den Achtzigern nicht zu übersehen: Die Skepsis gegenüber etablierten Parteien, der Wunsch nach einem neuen, unverstellten Habitus im Politikbetrieb und Debatten um Fragen, die sich andere Parteien nicht einmal stellen. Genau wie früher tönen auch die Skeptiker wieder, es handele sich doch bloß um eine Protestpartei, eine Chaostruppe, die im parlamentarischen Betrieb nichts beizutragen hätte.Existenzbedrohender ErfolgDie Piraten nehmen die Kritik gelassen. „Die werden sich noch wundern, was wir alles vorschlagen werden“, sagt Pavel Mayer. Der 46jährige – verheiratet, eine Tochter im Teenageralter – ist ein Bär von einem Mann und auch in der Fraktion eine Vaterfigur. Als die Debatte im P9 hochkocht, spricht er um keinen Deut lauter. Und in den Pausen hört er selbst dann nicht auf zu lächeln, wenn er gerade an seiner Selbstgedrehten zieht.Dabei hat Mayer viel zu verlieren. Der IT-Unternehmer hat kürzlich seine Altersvorsorge in eine neue Software-Firma gesteckt, acht Leute angestellt und Verhandlungen mit weiteren Investoren aufgenommen. Doch jetzt haben die Wähler ihn und drei seiner Mitarbeiter, die ebenfalls für die Piraten kandidierten, ins Parlament geschickt. Wenn Mayer zwischen den Partei-, Fraktions- und Bezirkssitzungen der nächsten Wochen nicht schnell Ersatz anwirbt, ist die Firma in Ihrer Existenz bedroht. „Ich habe ein echtes Problem, aber für diese Sache lohnt es sich“, sagt Mayer. Für diese Sache, das Projekt „Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus“. Aber worin besteht das eigentlich?Immer wieder wird den Piraten vorgeworfen, ihr Programm sei unausgereift, sie hätten zu wenig Inhalt zu bieten. Es ist eine Kritik, die Pavel Mayer gerne hört. Sie erlaubt ihm, auf das zu sprechen zu kommen, was den Piraten eigentlich wichtig ist. Es ist die Misere der etablierten Politik. Die besteht laut Mayer nicht etwa darin, dass es zu wenig Lösungsvorschläge auf dem Markt der Meinungen gibt. Das Hauptproblem sei vielmehr die Art und Weise in der heute politische Entscheidungen getroffen werden: Fern ab von den Bürger, ausgehandelt zwischen Abgeordneten, Lobbyisten und so genannten Sachverständigen, unter faktischem Ausschluss der Öffentlichkeit.Anders als etwa Rechtspopulisten machen die Piraten nicht etwa Ausländer, Muslime oder andere zu Sündenböcken. Sie rütteln auch nicht an den Grundfesten des demokratischen Systems. Im Gegenteil. Die Piraten wollen Rache nehmen dafür, dass die Vertreter der etablierten Parteien die Demokratie verhungern lassen. Dass sie sie ausweiden, so dass inzwischen fast nur noch die äußere Hülle übrig geblieben ist.Auf diesem Feldzug erscheint den Piraten eine ständig im Umbau befindliche Agenda hilfreicher zu sein als ein umfassendes Programm. Schließlich geht es ja gerade darum, den Bürgern die Macht über die Programme von Parteien zurückzugeben, anstatt ihnen etwas Fertiges vorzusetzen. Entscheidend sei eher, den politischen Prozessen an sich ein Update zu verpassen. Die Piraten wollen die Politik auf das zurückführen, was sie heute oft nur noch dem Namen nach ist: demokratisch, offen, mitgestaltet von dem Wissen, den Erfahrungen und Argumenten ihrer Bürger.Schon am Montag nach der Wahl haben Meinungsforscher nachgewiesen, was ohnehin alle wissen: Die Piraten wurden oft aus Protest gewählt. Skeptiker halten das für einen Ausweis dafür, dass sich das Phänomen Piratenpartei bald erledigt haben wird – ohne danach zu fragen, ob es Anzeichen dafür gibt, dass die Ursachen für die Entscheidung der Protestwähler beseitigt worden sind.Nur niemanden überfordernWie kurzsichtig eine solche Analyse sein kann, haben beispielsweise die Strategen der etablierten Parteien nach der letzten Bundestagswahl bewiesen. Sie hofften, dass es ausreichen würde, das Thema Netzpolitik zu besetzen, um den Piraten das Wasser abzugraben. SPD, Grüne und Linke bestimmten netzpolitische Sprecher, gründeten Arbeitskreise und veranstalteten fix ein paar Kongresse zum Thema. Selbst im Berliner Wahlkampf sprach Renate Künast noch davon, die Piraten müssten „resozialisiert“ werden. Die CDU besetzte den Posten des Vorsitzenden der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ und selbst die CSU ordnete die 33 Jahre alte Abgeordnete Dorothee Bär ab, um eine Ansprechperson präsentieren zu können. Geholfen hat es alles nichts.Wie das Berliner Wahlergebnis zeigt, haben die Piraten mit ihrem Bekenntnis zu mehr Bürgerbeteiligung ein Bedürfnis aufgenommen, das in der Bevölkerung weiter verbreitet ist, als vielen Berufspolitikern lieb sein dürfte. Es ist das Bedürfnis, auch zwischen den Wahlen ernst genommen und beteiligt zu werden. Dass Computer für die Piraten hierbei eine entscheidende Rolle spielen, ist kein Zufall. Schließlich macht die Informationstechnologie etwas möglich, was in den vergangenen Jahren in unschöner Regelmäßigkeit durch Debatten über die Gefahren des Internet verdrängt wurde: mehr Mitbestimmung selbst jener Menschen, die sich als Fremde im Politikbetrieb wahrnehmen und denen das Leben nicht die Zeit und Energie lässt, sich täglich mit Politik zu beschäftigen. Also im Grunde fast aller.Die Hoffnung der Piraten heißt Liquid Democracy, flüssige Demokratie. Der Begriff wird zuweilen mit einem Computerprogramm verwechselt, das einen ähnlichen Namen trägt und das die Piraten benutzen, um im Netz zu diskutieren und neue Partei-Positionen zu bestimmen, ohne dass die Debatten in Schlachten ausarten wie in den Kommentarspalten mancher Online-Zeitungen. Auf der Webseite der Piraten, kann jeder – ob Parteimitglied oder nicht – einen Antrag stellen, der dann im Netz verbindlich entschieden wird. „Wir werden auch unsere Arbeit in der Fraktion nach den Ergebnissen dieser Debatten ausrichten“, versprechen die Abgeordneten. Doch das ist nur das eine.Wo sind die Frauen?Liquid Democracy bezeichnet auch ein politisches Ziel, das die Piraten auch im nicht-virtuellen Raum umsetzen wollen: Alle politische Prozesse sollen so gestaltet werden, dass sie sich den Mitbestimmungsbedürfnissen der Bürger anpassen, nicht umgekehrt. Das Ziel: Jeder Bürger soll sich mit so viel Aufwand und Expertise einbringen können, wie er kann und möchte.Bisher muss man sich ja entscheiden: Entweder man wird zum politischen Aktivisten, nimmt die Mühen einer Parteikarriere auf sich, oder man redet sich in den Gesprächskreisen der sozialen Bewegungen den Kopf heiß, um schließlich in der Fußgängerzone Handzettel zu verteilen, sich in Gorleben von Polizisten wegtragen zu lassen oder auf einer Demo die richtigen Parolen zu rufen. Oder man handelt so wie die meisten Bürger und delegiert mit einem Kreuz auf dem Wahlzettel seinen Einfluss an gewählten Repräsentanten. Es ist ein Modell, das im 20. Jahrhundert einigermaßen funktioniert hat, dem sich nun aber gerade Jüngere nicht mehr unterwerfen wollen oder können.„Jede Generation braucht ihre eigene Bewegung“, hat es der Abgeordnete Fabio Reinhardt am Sonntag auf der Wahlparty der Partei kurz vor der ersten Hochrechnung genannt. Früher hätten die Grünen die Jungen aufgefangen, heute seien es die Piraten. Die Piraten als Partei der Internetgeneration, ein großes Wort. Zumal die Partei angibt, dass nur jedes fünfte Parteimitglied weiblich ist, auch in Berlin zieht nur eine Frau ins Parlament ein. Auf Fragen nach dem Geschlechterverhältnis reagieren die Piraten gereizt. „Wer fragt denn die Grünen, wieviele Betonmischer-Fahrer sie in ihren Reihen haben?“, sagt Gerwald Claus-Brunner. „Es kommt schließlich darauf an, welche Politik dabei am Ende herauskommt.“ Auch Christopher Lauer sagt: „Ich finde es erstaunlich, dass wir immer auf die Frauen angesprochen werden und viel seltener auf Ausländer, Behinderte oder Schwule.“ Außerdem seien zum Beispiel die Frauen bei den Piraten die vehementesten Gegner einer Quote, ergänzt Pavel Mayer.Wahrscheinlich hätte die personalschwachen Partei im Moment ein ernstes Problem, ihre Posten zu besetzen, wenn sie eine Quote einführte. Und so lautet die offizielle Parteilinie: „Wir schauen unseren Mitgliedern nicht zwischen die Beine.“ Ansonsten sei die Partei eben „post-gender“. Das geht so weit, dass sich neue Parteimitglieder in der Rauchpause erst einmal daran gewöhnen müssen, dass es in der Geschäftsstelle keine Herren- und Frauen-Toiletten gibt, sondern nur Waschräume „mit und ohne Urinal“ – die von jedem und jeder benutzt werden. Bis niemand etwas anderes vorschlägt, bleiben Frauenfragen bei den Piraten allerdings Teil der Minderheitenpolitik.Die Rauchpause neigt sich dem Ende. Faxe ist inzwischen etwas ruhiger. Parteikollegen haben ihm erklärt, dass er ja immer aus der Fraktion berichten kann, wenn er das Gefühl hat, das dort Sachen besprochen werden, die an die Öffentlichkeit gehören. „Oder du stellst einen Antrag im Netz“, sagt einer. „Schließlich haben die Fraktionsmitglieder erklärt, dass sie zurücktreten werden, wenn sie einen Beschluss der Partei nicht mittragen können.“