Nach den versuchten Berliner Brandanschlägen laufen die routinierten Reflexe. Dabei könnte es lohnen, darüber zu reden. Vielleicht kommt doch noch eine Diskussion in Gang
Nach den (versuchten) Berliner Brandanschlägen auf die Bahn schien es für einen Augenblick so, als ob auch einmal anderes folgen könnte als sicherheitspolitische Scharfmacherei. Kaum waren die üblichen Warnungen vor einer „neuen RAF“ in der Welt, meldete sich Widerspruch. „Das ist ein öffentliches Schüren von Hysterie“, sagt der Historiker Martin Jander in der ARD. Und auch beim ZDF kam ein Politologe zu Wort, der ein bisschen auf die Bremse trat. Aber war das wirklich schon jene „ungewohnte Wendung“, die erlaubt zu sagen: „Es wird tatsächlich diskutiert“? Und worüber wäre da eigentlich zu reden?
Zum Konsens in der sich selbst „wehrhaft“ nennenden Demokratie gehört es, Aktionen wie
zu sagen: „Es wird tatsächlich diskutiert“? Und worüber wäre da eigentlich zu reden?Zum Konsens in der sich selbst „wehrhaft“ nennenden Demokratie gehört es, Aktionen wie den (versuchten) Brandanschlägen abzusprechen, überhaupt diskutabel zu sein. Sie werden in den Raum des scheinbar objektiven Strafrechts verwiesen: Was so oder so kriminell ist, darüber könne es politisch auch keine unterschiedlichen Auffassungen geben. Hierin übrigens liegt die wahre Parallele zur RAF-Zeit, in der man den Militanten ja auch stets ihren politischen Selbstanspruch bestritten hat (um gegen sie dann trotzdem ein politisches Sonderstrafrecht in Stellung zu bringen).In der Berichterstattung über die (versuchten) Anschläge ist dieser Konsens kaum erschüttert. Fünf Tage und angeblich mehr als ein Dutzend nicht gezündeter Brandsätze später dominieren die alten Reflexe. Es läuft, erstens, einen Wettstreit in politischer Taxonomie, bei dem es um die Frage geht, zu welcher Spezies des Gefährlichen die „Hekla-Empfangskomitee“ genannte „Initiative für mehr gesellschaftliche Eruptionen“ eigentlich gehört. Vor allem die Opposition will nicht gern von "Terroristen" reden, sondern von "Chaoten" oder "Kriminellen". Worauf dann, zweitens, die Regierung mit dem Vorwurf der "Relativierung" reagiert und umso lauter vor einer „Gewaltspirale“ warnt. Dieser Streit ist wiederum Sprungbrett für jene Polizei-Lobbyisten, die nun „einige hundert Staatsschützer“ zusätzlich aufbieten wollen und fordern, die linke Szene „viel intensiver als bisher mit verdeckten Ermittlern zu unterwandern“. Und wo man schon dabei ist, wird die Gelegenheit genutzt, den Konsens gleich noch ein bisschen nach rechts zu verschieben: V-Leuten solle doch bitte sehr erlaubt werden, „sich zum Schein an szenetypischen Straftaten zu beteiligen, sonst bleibt ihr Einsatz ein stumpfes Schwert“.Richtiges Ziel, falsche Mittel?Die Hoffnung darauf, dass die (versuchten) Brandanschläge anders, also „tatsächlich diskutiert“ werden könnten, beruht auf zwei Voraussetzungen. Die erste lautet: Es gibt Leute, die meinen, da gebe es überhaupt etwas zu debattieren. Mit Blick auf die (versuchten) Bahnanschläge wird diese Sinn-Bedingung von jenen erfüllt, die entweder das Ziel für richtig und die Mittel für falsch halten. Oder aber in dem behaupteten Ziel den Fehler sehen, den man nur als solchen erkennen wird, wenn man wenigstens die Analyse teilt, dass der real existierende Kapitalismus nichts ist, was man hinnehmen sollte. Hinzu kommen noch jene, die meinen, die Geschichte sei womöglich ganz anders abgelaufen. Die zweite Voraussetzung ist, dass es eine (Teil-)Öffentlichkeit gibt, in der diese Diskussion stattfinden könnte – und dass diese verändernd auf den herrschenden Konsens einzuwirken in der Lage ist. Vielleicht fängt eine solche Debatte gerade an.Sie verdankt sich einerseits der wachsenden Bedeutung des Internets als öffentlichem Resonanzraum einer (allerdings oft unbehauenen) Form von Gegenöffentlichkeit: Hier lebt der stete Zweifel an jeder offiziellen Version. Seine Stärke liegt nicht in der Begründung, die auf 140 Twitterzeichen oder kurzen Community-Kommentaren kaum zu mehr als einem verweisenden „Siehste!“ in der Lage ist. Sondern in der schnellen Verbreitung. Die muss heute nicht erst die Barrieren überwinden, die früher zwischen den (Teil-)Öffentlichkeiten standen. Wer von den vielen Retweetern dieser Tage hätte schon die Interim gelesen? Oder wer von den Redakteuren, die heute über die Diskussionen in den linken Netzforen berichten? Mit Agentur-Berichten wie „Linke Szene streitet über Brandanschläge“ erreicht so selbst die Lokalzeitungen eine Ahnung davon, dass es hier doch etwas zu diskutieren gibt.Kommender Aufstand oder Neoprimitivie?Im Zentrum steht das 2010 auch auf Deutsch erschienene Büchlein Der kommende Aufstand. Jedenfalls fällt es auf, dass sich die paar ernsthaften Auseinandersetzungen mit den (versuchten) Brandanschlägen fast alle auf das Pamphlet beziehen. Stefan Reinecke stellt in der Tageszeitung das Bekennerschreiben des „Hekla-Empfangskomitees“ in die Tradition einer „Modernekritik, die sich gegen die Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation richtet“. Diese sei „nicht originär links, sie hat eher konservative Wurzeln. Heideggers Technikkritik stand hier Pate.“ (Ähnlich argumentiert Peter Mühlbauer in seiner Polemik gegen „Neoprimitive“ auf Telepolis. Der Hinweis auf das Antimoderne des Büchleins ist für Taz-Verhältnisse so wenig neu, wie der Vorwurf auch zum Beispiel in der Welt zu lesen ist, die Militanten seien im Kern reaktionär.) Es sei auch kein Zufall, „dass die drohende globale Implosion des Finanzkapitalismus und die massive Verarmungsschübe in dem Text so gut wie gar nicht vorkommen“. Ulrike Winkelmann hält das Bekennerschreiben dagegen für „eine relativ konzise und stilistisch gelungene Abhandlung über den Zusammenhang zwischen kapitalistischen Produktionsbedingungen und politischer Stumpfheit angesichts des Leids in der Welt. An dem Text zu kritisieren ist bestenfalls, dass die Finanzkrise darin keine Rolle spielt.“Jakob Augstein wiederum sieht genau diesen Zusammenhang, obwohl er im Bekennertext nicht auftaucht. In brennenden Autos und den (versuchten) Bahn-Anschlägen sieht er auf Spiegel online „eine Reaktion auf einen bereits erfolgten Zusammenbruch, den des Rechts, den der Verantwortung, den der Moral“, die am klarsten in der Unterordnung der Politik unter das Primat der Märkte zum Ausdruck komme. „Der Staat, der nur wenige Tagen braucht, um Milliarden für die Rettung der Banken bereitzustellen aber viele Jahre, um die Finanztransaktionssteuer einzuführen, ist dabei“, jenen Gesellschaftsvertrag zu brechen, in dem der Einzelne seine Freiheit dem Leviathan des Staates unterwirft und dafür im Gegenzug Schutz und Chance auf Wohlstand erhält. „Der kommende Aufstand geht von Berlin aus“, schreibt Augstein. Freilich nicht ohne „eines von vornherein klarzustellen: Gewalt ist keine Lösung“.Einmal abgesehen davon, dass Gewalt in anderem Zusammenhang genau diese Potenz von interessierter Seite ohne jedes Nachdenken zugebilligt wird, also eben doch: Lösung zu sein, gehört zu den Reflexen jeder Debatte über Sinn und Tendenz von Aktionen wie den (versuchten) Brandanschlägen der Hinweis, dass vielleicht das Ziel richtig, die Mittel aber falsch seien. Martin Kaul hat in der Tageszeitung auf eine Paradoxie hingewiesen, die „hierzulande die Theorie von der Praxis“ trennt. War Stéphane Hessels Empört Euch! nicht ebenso in den Feuilletons beklatscht worden wie Der kommende Aufstand? So lange „nur gelabert wird, sind alle gerne mal für Revolten, selbst die Dandys aus der Spielwarenabteilung der FAZ“. Und die Linke? „Wir Welterklärer und Versteherinnen – warum gefällt uns die Revolte immer nur abstrakt und ganz woanders?“, fragt Kaul. Und weiter: „Wie soll er denn dann, bitte, sein, der schöne Aufstand?“ Das ist zumindest einmal eine gute Frage.