Als Herbert Kurek am Dienstag in Frankfurt am Main deutschen Firmen riet, sich besser gegen Wirtschaftsspionage zu schützen, werden die anwesenden Manager überlegt haben: Was soll man eigentlich einem Abteilungsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz noch glauben? Dem Vertreter einer Institution, die den gleichen Namen trägt wie Landesbehörden, welche nun immer mehr ins Zentrum eines sicherheitspolitischen Skandals rücken, den auch das Bundesamt nicht zu verhindern wusste und von dem das Ausmaß angesichts der hanebüchenen und teils widersprüchlichen Enthüllungen kaum absehbar ist?
Banküberfälle, zwei tote Neonazis, neun aus offenbar rassistischem Motiv ermordete Gewerbetreibende, Dutzende bei mindestens einem Anschlag Verletzt
g Verletzte, eine erschossene Polizistin – das sind Puzzleteile eines politischen Kriminalfalles, der weiter reicht als nur bis zum nächsten Indiz.Es geht um die Heuchelei im Kampf gegen Rechts, der erst dann zur Herzensangelegenheit im „Bündnis der Demokraten“ wird, wenn ersichtlich ist, dass der Staat ihn eher behindert als befördert. Es geht um die Finanzierung von Programmen gegen eine rassistische Alltagsnormalität, die von der zuständigen Ministerin mit der Hürde einer juristisch fragwürdigen Extremismusklausel versehen wurde. Es geht um Vorwürfe, dass die Politik zwar schnell und oft einen „neuen Linksterrorismus“ an die Wand malt, dass die Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung rechtsradikaler Netzwerke aber weit weniger Eifer an den Tag legen. Es geht um die Frage, ob man eine Partei wie die NPD nur deshalb nicht verbieten kann, weil sie von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt ist.Strafverfolgung torpediertVor allem aber geht es um einen Verfassungsschutz, der – ob aus Schlamperei oder mit Absicht – bei der Verhinderung einer der blutigsten Mordserien in Deutschland versagt, ja womöglich sogar die Strafverfolgung torpediert hat. Und es geht um die Frage, ob eine liberal verfasste Demokratie überhaupt mit einem politischen Geheimdienst kompatibel ist.Als Thomas Oppermann am Dienstag nach der Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag vor die Kameras trat, war dem SPD-Politiker die Dimension des Falls schier ins Gesichts geschrieben. Blass, rotfleckig und mit rastlosem Blick teilte Oppermann der Presse mit, dass die „Zwickauer Zelle“ – Uwe M., Uwe B. und Beate Z. – wohl weitere Unterstützer neben dem inzwischen inhaftierten Holger G. hatte. Oppermann wurde gefragt, was es mit dem Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes auf sich habe, der angeblich in der Nähe von sechs der neun Tatorten der Mordserie war, „eine offenkundig stark rechte Gesinnung“ hat und inzwischen bei der hessischen Bezirksregierung arbeitet. Und der Sozialdemokrat sollte erklären, warum die Thüringer Verfassungsschützer trotz Einladung nicht in den Kontrollausschuss des Bundestags gekommen waren. Die Antworten fielen eher spärlich aus, kein Wunder, bei einem Geheimgremium.Im Freistaat liegt der Ursprung dieser Affäre. Er reicht in die neunziger Jahre zurück – in eine Zeit, in der sein Verfassungsschutz von jeder effektiven Kontrolle entfesselt Rechtsradikale als V-Leute führte. Er zahlte ihnen beachtliche Summen für Informationen, von denen man heute kaum sagen kann, ob sie überhaupt im Sinne des Behördennamens verwendet wurden: die Verfassung zu schützen. Neonazis prahlten damit, das Geld direkt in den Aufbau von rechtsradikalen Strukturen investiert zu haben – in Trupps wie den „Thüringer Heimatschutz“, der Jagd auf Migranten und Linke machte. Und vielleicht wurden mit dem Staatsgeld auch jene Bombenbasteleien bezahlt, die schon früh auf die tödlichen Absichten der Neonazis hindeuteten.Zweifel nicht beseitigtSpäter patzten auch Polizeibehörden. Dem Neonazi-Trio gelang es abzutauchen. Ob und in welcher Form dabei der Verfassungsschutz beteiligt war und was er wusste, ist ungeklärt. Berichte über den Fund „legaler illegaler Papiere“, die nach den Worten des Unions-Innenpolitikers Hans-Peter Uhl „im Regelfall nur verdeckte Ermittler“ des Nachrichtendienstes erhalten, wurden gestreut und wieder dementiert. Der Chef des Verfassungsschutzes von Thüringen, Thomas Sippel, musste zugeben, dass bei einer Prüfung der Neonazis auf Kontakte zum Dienst „letzte Zweifel nicht beseitigt“ werden konnten. Auch der Innenminister im Freistaat wollte nichts ausschließen. Nun soll der ehemalige Bundesrichter Gerhard Schäferl den Umgang der Thüringer Sicherheitsbehörden mit dem Neonazi-Trio untersuchen.Eine eigene Ermittlung strebt Oppermann im Parlamentarischen Kontrollgremium an – und setzt dabei ausgerechnet auf die Amtshilfe jener Behörden, die am stärksten im Kreuzfeuer der Kritik stehen: den Verfassungsschutz von Thüringen und Hessen. Der Vertreter der Linken, der frühere Bundesrichter Wolfgang Nešković, forderte die Einsetzung eines externen Sachverständigen. Auch eine unabhängige Kommission oder ein Untersuchungsausschuss des Bundestags wurden ins Gespräch gebracht. Letzteres wiederum hielt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier am Dienstag für verfrüht – als ob es nicht in Wahrheit längst zu spät wäre, dass sich das ganze Parlament auf einigermaßen transparente Weise mit der Sache befasst.Nicht nur wegen der zehn Opfer. Eine Debatte, die das Agieren des Verfassungsschutzes bloß als bedauerliche Abweichung von der „guten Norm“ absieht, greift ohnehin zu kurz. Rufe nach einer Reform beim Inlandsgeheimdienst, nach Aufgabenteilung sowie besserer Kooperation zwischen Landesbehörden und Bundesamt, unterschlagen die Unvereinbarkeit von liberalem Staatswesen und politischem Geheimdienst. Das generelle Problem des Verfassungsschutzes wird der Öffentlichkeit ja gerade vor Augen geführt: seine Tendenz zum Eigenleben, die Unkontrollierbarkeit, die Entfremdung von demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln.Neonazis als „schräge Vögel“Die durch viele Skandale gut geölte politische Aufarbeitungsmaschinerie vermag sogar, die Debatte in eine Richtung zu lenken, in der das Problem größer statt kleiner wird. Union und FDP überlegen, eine Art „Terrorabwehrzentrum auch für den Bereich des Rechts- und Linksextremismus“ einzusetzen – was die Trennung von polizeilichen und geheimdienstlichen Aufgaben weiter aufzuweichen droht. Selbst die Institution der V-Leute wird nicht suspendiert, sondern beschönigt. Es handele sich bei Neonazis, die dem Staat für Geld zu Diensten sind, zwar um „schräge Vögel“, sagt der SPD-Politiker Michael Hartmann. Anders könne man den Rechtsradikalismus aber nicht kontrollieren. Dagegen hat Unions-Fraktionschef Volker Kauder die Thüringer Lektion offenbar gelernt: „Ein Instrument, das uns nichts bringt, das brauchen wir auch nicht.“Es besteht jetzt die Chance, die Frage generell aufzuwerfen: Wozu braucht die Bundesrepublik überhaupt einen Verfassungsschutz? Das Amt und seine Länder-Ableger haben oft mit Skandalen und Affären auf sich aufmerksam gemacht, haben Unbescholtene bei ihren Arbeitgebern angeschwärzt, Rechtsanwälte und Abgeordnete bespitzelt, Straftaten begehen lassen und eine inakzeptable „Herrschaft des Verdachts“ etabliert, wie es der Jurist Dietrich Murswiek einmal formuliert hat.Der Verfassungsschutz gehört aufgelöst. Die Forderung ist nicht neu und noch weniger ist sie absurd, wie denen gern unterstellt wird, die sie erheben. Die Grünen haben die schrittweise Auflösung aller Geheimdienste noch 1998 in ihr Wahlprogramm geschrieben. Heute macht sich die Linkspartei für ein Ende des Verfassungsschutzes stark, und nicht zuletzt Sozialdemokraten. „Der Schutz einer demokratischen Verfassung obliegt einer demokratisch gesinnten Bevölkerung und nicht einer Behörde“, forderten Thüringer SPD-Mitglieder bereits im März und formulierten, was dieser Tage unübersehbar wird: „Ein Verfassungsschutz, der die Verfassung nicht schützt, sondern die politische Kultur beschädigt, ist überflüssig.“