Am Tag der Unabhängigkeit bewirkte ein nationalistischer Aufzug der „wahren Patrioten“, was er bewirken wollte – Zusammenstöße und Straßenschlachten in Warschau
Warschau im November und am Rande des Platzes der Verfassung. Ein junger Pole zögert noch. „Jetzt geh’ schon, reih’ dich da ein! Tu etwas für dein Land”, spornt ihn eine ältere Frau an. Der Angesprochene, entweder Sohn oder Schwiegersohn, schaut mit ihr, einer jungen Frau und einem kleinen Jungen auf die Mitte des Platzes, wo eine etwa zweihundertköpfige Menge Fahnen schwenkt und von Polizisten eingekreist ist. Immer wieder wird gebrüllt „Bóg, Honor i Ojczyzna!” (Gott, Ehre und Vaterland!).
Der vermeintliche Familienvater gönnt sich noch etwas Zeit, dann rollt er die rot-weiße Fahne aus, gibt der Frau ein Küsschen, trennt sich mit ihrer Hilfe von dem kleinen weinenden Kind, das auch mit will, zieht sich im Gehe
ch im Gehen eine gestrickte Skimütze über und läuft den Sprechchören und dem Rot-Weiß der Fahnen entgegen. „Kommt zu uns, reiht euch ein”, ruft ein Megafon. Und immer wieder dröhnt es aus der Menge „Bóg, Honor i Ojczyzna!”.Die geschilderte Szene spielt am 11. November 2011. Sie hat etwas Symbolisches und ebenso Symptomatisches. Der Aufmarsch rechtsradikaler Verbände am Tag der Unabhängikeit ist für manchen Bürger gesellschaftsfähig geworden. Nichts Anstößiges, sondern ein Anstoß zum Schulterschluss. Man lässt sich vereinnahmen und läuft einfach mit.Seit der Wende von 1989/90 feiert das Land am 11. November die Ausrufung der Republik unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg durch Marschall Jozef Pilsudski im Jahr 1918. In der Volksrepublik wurde der Geschehnisse von einst nicht offiziell gedacht. Seit mehr als 20 Jahren aber bietet die Geschichtsfolie für Nationalisten und Rechtsextreme eine willkommene Gelegenheit zu Umzügen, Provokation und Hetze gegen alles, was sie für unpatriotisch halten. Es geht gegen Juden, Kommunisten und Homosexuelle, aber auch Regierungen wie die des liberalen Premiers und überzeugten Europäers Donald Tusk.Allerdings versuchen die maßgebenden Organisatoren dieser Unabhängigkeitsfeier – das Nationalradikale Lager (ONR) und die moderatere Allpolnische Jugend (MW) – seit 2010 einen übertrieben militanten Eindruck zu vermeiden. Antisemitische Parolen sind inzwischen verboten.Mythos schlechthin So hängen im November 2011 Plakate in der Warschauer Innenstadt, auf denen ein junger Mann im Anzug und einer junge Frau im Kostüm potenzielle Sympathisanten auffordern: „Sei ein Held, der Morgen gehört uns!” Im Hintergrund sind ein Partisan aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Soldat aus der Napoleonzeit und ein polnischer Ritter abgebildet – eine willkürliche Dreieinigkeit, um den Mythos des polnischen Freiheitskämpfers schlechthin zu bedienen.Die Allpolnische Jugend entstand bereits 1922 als Studentenbund, während das Nationalradikale Lager 1934 in Anlehnung an Mussolinis Schwarzhemden gegründet und nach ein paar Monaten verboten wurde. Beide propagierten ein Polen ohne Minderheiten, besonders ohne Juden, und hofierten als geistigen Vormund den kurzzeitigen Außenminister und unbestrittenen Anführer der Nationaldemokratischen Partei, Roman Dmowski (1864 – 1939). Sein Denkmal am Lazienki Park ist das Ziel jedes „Marsches der Unabhängigkeit” an jedem 11. November. Seit der Wahlschlappe der Liga Polnischer Familien (LPR) 2007 ist Polens radikale Rechte ohne parlamentarische Präsenz und lebt ihr Artikulationsbedürfnis um so mehr auf der Straße aus. Roman Giertych, einst LPR-Vorsitzender und Neu-Gründer der Allpolnischen Jugend, war 2006/07 kurz Erziehungsminister, was in der EU für Befremden sorgte.Diese ganze Bewegung beziehe sich auf faschistische und anitsemitische Ideologien aus den dreißiger Jahren, meint Paula Sawicka für die Nichtregierungsorganisation Offene Republik. Leider verhielten sich Oppositions- wie Regierungspolitiker, ebenso die Katholische Kirche diesen Tendenzen gegenüber mehr oder weniger gleichgültig. Wie viele Rechtsextreme es in Polen augenblicklich gebe, lasse sich nicht genau sagen, vorrangig im Nordosten würden sie immer deutlicher in Erscheinung treten. Dort seien litauische und jüdische Einrichtungen beschädigt worden. Auf das „Warum” hat Paula Sawicka keine Antwort. „Hass ist leichter zu wecken, als die Fähigkeit zu lieben”, zitiert sie Marek Edelman, den ehemaligen Kommandeur des Warschauer Ghettos.Die polnischen Medien fasziniert die Konfrontation am Tag der Unabhängigkeit ungemein. Je näher das Datum rückt, desto mehr beschäftigen die Fragen: Ist erneut mit Zusammenstößen zu rechnen? Münden sie in Straßenschlachten? Wer verteidigt sich gegen wen, wenn zwei Auslegungen von Polentum aneinander geraten? Hier eine nationalistische Avantgarde, verstärkt durch Neonazis von Blood and Honor und Fußballhooligans, die jede Regierung und Polizei hassen. Und auf der anderen Seite alternative Gruppen, die der Ruf eint: „Faschismus kommt nicht durch!”, ausgebracht von linken Parteien, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen oder Mitgliedern der neuen Bewegung Palikot, die sich offen für sexuelle Minderheiten einsetzt und gerade in den Sejm gewählt wurde. „Patriotismus, das ist in Polen ein positiver Begriff, der nicht hinterfragt wird und die Leute anzieht”, begründet Wioleta Krysiak von den Jungen Sozialisten die suggestive Wirkung des Unabhängigkeitstages. Auch die Mitglieder ihrer Organisation, allesamt Studenten, die einen Tag vor dem 11. November in einem improvisierten Büro Plakate für eine Blockade der Rechten malen, würden sich als Patrioten sehen, auch wenn sie auf dem Wort nicht bestehen.Böller fliegen, Bierbüchsen krachen Am Unabhängigkeitstag dröhnt ab zwölf Uhr auf der breiten Marszalkowska-Straße Reggae-Musik aus einem umgebauten Lastwagen, etwa 1.000 Menschen sind gekommen. Die Jungen Sozialisten seien bester Stimmung, meint Michal, nur leider zu wenige. Atemluft und Luftballons steigen in den Himmel über Warschau. Vom Laster herab wird ein kurzer Vortrag über die Geschichte Polens gehalten, der damit schließt, dass dem Land keine Feinde mehr geblieben seien. Was die „Anderen” bekanntlich bedauerten.Die „Anderen” werden in zwei Stunden erwartet. Ihr Sammelplatz liegt am Platz der Verfassung, gerade einmal hundert Meter vom Treffpunkt der Gegendemonstranten entfernt, die den Marsch der Rechten aufhalten – genauer: blockieren – wollen, hauptsächlich gewaltfrei, wie es heißt, doch liegen entlang der Marszalkowska viele herrenlose Pflastersteine herum. Die Blockierer haben Angst, dass es einen Gewaltausbruch gibt, der kaum zu beherrschen ist. Auch Malgorzota, eine Studentin, hat Angst und lange gezaudert, hierher zu kommen. Fotografiert werden will sie nicht, weil sie fürchtet, ein solches Foto könnte bei Redwatch landen, dem Internetsteckbrief international agierender Neonazis. Dann ist es soweit, die Marschierer laufen los und wollen sich nicht aufhalten lassen. Sie überrennen die Blockierer, durchbrechen eine Polizeisperre und sorgen für die ersten Szenen der Schlacht. Es gibt Verletzte, Sanitäter und Fotografen haben zu tun.„Nazis raus” skandiert im Hintergrund ein Schwarzer Block und ist ein Hinweis darauf, dass deutsche Autonome nach Warschau gereist sind. Auch die Fussballhooligans wollen nicht abseits stehen und dringen vor, Böller fliegen, Bierbüchsen krachen gegen die Panzerung von Wasserwerfern, dazu Flaschen, Pflastersteine, Ziegel, Eisenstangen. Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten und vor dem Portal einer Bank-Filiale ausharren, gehen in Deckung. „Das ist eher nicht meine Sache”, meint ein Mann mit Bürstenschnitt und modischer Lederjacke und eilt mit einer sprachlosen Begleiterin davon. Die Polizei treibt Marschierer und Blockierer mit Wasserstrahl und Reizgas aueinander. Alles erinnert an Bilder aus den achtziger Jahren, als Milizionäre gegen Solidarnosc-Protestler vorgingen.Auf dem Verfassungsplatz versucht mittlerweile Robert Winnicki, Chef der Allpolnischen Jugend und laut Armbinde „Hauptorganisator”, den Ton anzugeben: „Habt keine Angst”, ermuntert er von einem Podest aus die versammelte Menge, besonders die älteren Teilnehmer der Unabhängigkeitsfeier, die fast ausnahmslos schwarze Kleidung tragen und ihre Gesichter mit Schals vermummt haben.Im Zug der etwa 10.000 Patrioten, der nun aufbricht und eine andere Route wählt, um die Straßenschlacht zu umgehen, werden immer wieder die Worte Okkupation und Kommunisten gerufen. Überall sind die deutschen Anarchisten ein Gesprächsthema und viel Empörung wert. Noch vernehmlicher schäumt die Wut wegen der eigenen Medien. Einer der Marschierer verbreitet, der Privatsender TVN habe bis zuletzt berichtet, die Demonstration finde gar nicht statt. „Die Medien lügen, die Medien lügen” skandiert daraufhin die Menge, um in Rufweite des Präsidentenpalastes die „Komoruski”, (in Anlehnung an „ruski”) und „Verräter Polens” zu schmähen. Dies gilt Präsident Komorowski, dem Nachfolger von Lech Kaczynski, der im April 2010 bei einem Flugzeugabsturz nahe Smolensk ums Leben kam. Ihm werfen die Rechten seit Monaten vor, lieber mit Russland zu kuscheln, anstatt die Katastrophe aufzuklären.„Wir verlangen eine internationale Untersuchungskommission”, meint Barabara Chonacka. Die kleine zierliche Frau ist in einem Block mit größtenteils vermummten Demonstranten als einzige zu einem Gespräch bereit. Sie gehöre zur Organisation Solidarni 2010. Mit den randalierenden Hooligans habe sie nichts zu tun. Aber erwähnen müsse sie – Roman Dmowski sei eine der wichtigen Persönlichkeiten Polens gewesen. Schließlich erreicht der Zug wie üblich Dmowskis Denkmal am Lazienki Park. Die Polizei fordert die Demonstranten auf, sich zu zerstreuen. Bald fliegen auch hier Feuerwerkskörper, zu guter Letzt brennt ein Fahrzeug des Nachrichtendenders TVN 24.Rafal Stanczyk, der Reporter vom Staatskanal TVP, kann kurze Zeit später auf der verwüsteten Marszalkowska nicht in Ruhe sein Statement aufzeichnen. Drohungen und Gebrüll versprengter Marschierer stören ihn. Danach ist er sichtlich schockiert über die „Idioten” und meint, dass es „deutsche Anarchisten” gewesen seien, die unter Nazis-raus-Rufen Polen geschlagen und bespuckt hätten. Dass unter den 210 Festgenommen 92 Deutsche sind, liefert den Medien am Tag danach ein großes Thema. Organisator Robert Winnicki hat nun offiziell Recht, weil er vor dem Unabhängigkeitstag Krawalle wegen der Anreise von Autonomen aus Deutschland prophezeite. Premier Tusk spricht von einer „unglücklichen Symbolik”, die es an diesem 11. November gegeben habe.