Beim Referendum in Baden-Württemberg am Sonntag wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. Dass der Urnengang den Konflikt um Stuttgart 21 befriedet, glauben nur wenige
Die Baden-Württemberger sind informiert. Schon während der live im Fernsehen übertragenen Schlichtung vor einem Jahr wurden die Sachargumente zu Stuttgart 21 zigmal ausgetauscht. An der Diskussion um die Resultate des anschließenden Stresstests haben sich beide Seiten munter beteiligt. Vor- und Nachteile des alten Kopfbahnhofs sind bekannt, Nutzen und Risiken des neuen Tiefbahnhofs erörtert – und was ein integraler Taktfahrplan ist, wissen in und um Stuttgart so viele Menschen wie wohl nirgends sonst auf der Welt.
Aufeinander zubewegt haben sich Befürworter und Gegner des Bahnprojekts seit Heiner Geißlers Schlichterspruch allerdings nicht, im Gegenteil: Die argumentative Grenzlinie verläuft nun quer durch die im Frühjahr gewählte gr
hlte grün-rote Regierung. Während die Grünen im Ländle auf der Seite der S21-Gegner stehen, beharrt die baden-württembergische SPD auf dem umstrittenen Milliardenbau. Bevor sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auf einwöchige Südamerika-Reise begab, endeten gemeinsame öffentliche Auftritte mit seinem Stellvertreter Nils Schmid (SPD) mit der immer gleichen grotesken Szene: Die Koalitionäre lächelten um die Wette, um Harmonie auszustrahlen. So richtig gelingen wollte das nie.Schwer erreichbares QuorumEinigkeit besteht nur darin, die im Landtagswahlkampf versprochene Volksabstimmung Wirklichkeit werden zu lassen. Im Anfang November an alle Haushalte verteilten Informationsblättchen wird den Bürgern in Aussicht gestellt, dass sie „in dieser Sache das letzte Wort“ haben. Das Ziel ist eindeutig: ein abschließendes und befriedendes Urteil über Stuttgart 21, das die Spaltung der Bevölkerung überwinden hilft. Wer den letzten Umfragewerten Glauben schenkt oder mit Befürworten und Gegnern spricht, wird diese Hoffnung schnell aufgeben: Eine klare Mehrheit möchte das Resultat des Volksentscheids zwar akzeptieren, erwartet aber dennoch kein Ende des Zwists. Das acht Tage vor der Volksabstimmung von „Robin-Wood“-Aktivisten vorsorglich errichtete Baumhaus im Schlossgarten ist ein klares Zeichen: Der Widerstand geht weiter.Die rechtliche Hürde für einen Erfolg des Referendums ist gewaltig und sorgt bei Verfechtern direkter Demokratie für tiefe Sorgenfalten: Die Verfassung sieht ein Quorum vor, wonach ein Drittel aller Stimmberechtigten in Baden-Württemberg – das entspricht etwa 2,5 Millionen Menschen – der vorgelegten Gesetzesvorlage zur Kündigung der S21-Verträge zustimmen müsste. Nur so kann das Ergebnis der Volksabstimmung eine bindende Wirkung entfalten. Die Rechnung ist zwar einfach, aber vielen Bürgern unbekannt: Bei dem erwarteten knappen Resultat am Sonntag ist eine Wahlbeteiligung von über 60 Prozent nötig, um die Landesregierung zur Wahrnehmung ihrer Kündigungsrechte zu verpflichten. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl im März waren es 66,3 Prozent – als im Juli 2010 in Bayern über den Nichtraucherschutz abgestimmt wurde, gingen jedoch nur 38 Prozent in die Wahllokale.„Unser Ziel ist es, das Quorum wenigstens in der Region Stuttgart zu erfüllen“, stapelt Hannes Rockenbauch vom Landesbündnis „Ja zum Ausstieg“ tief. „Aber auch für uns ist am Ende natürlich entscheidend, wer im ganzen Land die Mehrheit hinter sich hat.“ Auf den letzten Metern des Wahlkampfes wolle man möglichst viele Menschen dazu bringen, zur Volksabstimmung zu gehen.Wahlkämpfe kosten Geld, bei einer Volksabstimmung ist das nicht anders. „Die Kampagnen-Kosten bringen uns an unsere Grenzen“, beklagt Rockenbauch. Beim Lager der Befürworter sieht das wohl deutlich anders aus. Die Mittel beider Seiten im Kampf um die Mehrheit sind allerdings ähnlich: Plakate, Broschüre, Info-Stände, Vorträge, Video-Filme und Sonderzüge.Mit Sonderzügen in den EndspurtSchon zwei Mal stieg Bahnchef Rüdiger Grube in den vergangenen Tagen gemeinsam mit prominenten Befürwortern von Stuttgart 21 in einen Sonderzug. Bei den kurzen Kundgebungen auf den Unterwegsbahnhöfen wiederholte er sein Mantra: Die Baden-Württemberger sollten sich gut überlegen, ob sie 1,5 Milliarden Euro für den Ausstieg bezahlen wollen. Die Gegner des Tiefbahnhofs rechnen allerdings anders: Sie glauben, der Ausstieg werde nur 350 Millionen Euro kosten. Und sagen an dieser Stelle gern: besser jetzt ein Ende mit Kosten als Kosten ohne Ende.Die Gegner erregen sich auch immer noch über die Formulierung des amtlichen Stimmzettels, wo die Gegner des Tiefbahnhofs mit Ja stimmen sollen. „Wer Ja und wer Nein ankreuzen sollte, habe ich vielen Menschen erst erklären müssen“, schildert die grüne Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch die Erfahrungen ihres ersten Volksabstimmungs-Wahlkampfes. Egal, wie sich die Baden-Württemberger am Sonntag entscheiden: Wie kompliziert Ja- oder Nein-Sagen sein kann, wissen sie in Zukunft. Die Logik integraler Taktfahrpläne erscheint dagegen trivial.