Die Opposition gegen Präsident Medwedjew und Premier Putin besteht hauptsächlich aus Arrivierten. Wohin die Bewegung künftig geht, ist noch nicht erkennbar
In sozialen Netzwerken wie Facebook und vkontakte.ru haben sich Zehntausende öffentlich Mut gemacht. Obwohl in Moskau wilde Gerüchte kursieren und von staatlich bezahlten Provokateuren die Rede ist, haben sie sich im Internet zur Kundgebung gegen mutmaßliche Wahlfälschungen verabredet.
Und so ziehen an diesem Samstag junge Leute wie gestandene Bürger durch die kleinen Gassen im Moskauer Altbauviertel Samoskworetschje, als wäre dieser Marsch in Russland die normalste Sache der Welt – und nicht eine große Ausnahme nach Jahren äußerst schwacher Opposition. „Wenn so viele Leute auf der Straße sind, vergeht die Angst“, meint die Software-Entwicklerin Julia Starostina. Die Veranstalter sprechen später von 100.000 Teilnehmern
eilnehmern, die Polizei von 25.000, Journalisten von 40.000.Versammelt haben sich vor allem die Arrivierten und die gut Ausgebildeten – Menschen, die finanziell über die Runden kommen oder sich ihrer Karrieren sicher sein können. „Es demonstrierten die Satten“, schreibt Andrej Kolesnikow im Kommersant. Wie der Augenschein vermuten lässt und sich im Gespräch bestätigt, sind die Protestierenden vor allem eines: politisch nicht festgelegt. Man protestiert gegen den Ministerpräsidenten und designerten Präsidenten Wladimir Putin. Von dessen Partei Einiges Russland will man sich nicht die Stimme „stehlen“ lassen.Rollendes RZwei junge Moskauer Männer tragen ein weißes Transparent, auf dem nichts weiter zu sehen ist als die Silhouette des legendären Panzerkreuzers Potemkin. Was sie damit sagen wollen, bleibt nebulös. Nur soviel ist zu erfahren: „Nein, eine Revolution, die wollen wir nicht“. Was dann? „Ehrliche Wahlen!“ Auf einem Schild daneben steht: „Der Zar ist ein Dieb.“ Und dann wehen da noch die vielen Fahnen der vielen Lager – das Orange der liberalen Solidarnost-Bewegung oder das Rot und Dunkelrot diverser kommunistischer Gruppen. Kann daraus eine Bewegung werden, die den Zar Putin stürzt? In Russland ist alles möglich, verheißt ein Sprichwort. Dass die Miliz an diesem Moskauer Wochenende im Hintergrund bleibt und das Fernsehen relativ fair berichtet, wirkt wie ein Zeichen des Kremls: Wir wollen euch nicht herausfordern. Weder durch Härte noch durch Ignoranz.Rechtsradikale, Syndikalisten, Nationalisten und Kommunisten stehen nah beieinander, ohne dass man sich in die Quere kommt. Es gibt Pfiffe, als der Nationalist Konstantin Krylow behauptet, diese Meeting sei der Beginn einer „russischen Revolution“. Wobei er das „R“ bedrohlich rollt.Gennadij Gudkow, Abgeordneter von Gerechtes Russland, verlangt eine strafrechtliche Untersuchung möglicher Wahlfälschungen. „Heute demonstrieren wir friedlich, aber wenn die Macht nicht auf ihr Volk hört, kann das ernste Folgen haben“. Gegen Ende seines Auftritts ruft Gudkow in die Menge: „Tschurow muss zurücktreten!“ Die Menschen stimmen sofort in diesen Schlachtruf gegen den Leiter der Zentralen Wahlkommission ein. Doch ist das dem Moderator der Kundgebung zu wenig. Er greift zum Mikrofon und stimmt die Menge auf eine neue Parole ein: „Putin v otstavku“ (Putin muss zurücktreten). Roman Dobrochotow, der im Direktorium der von Boris Nemzow gegründeten Solidarnost sitzt, erklärt später, seine Organisation wolle eine Revolution in Orange. Dafür brauche man gar nicht so viele Leute. Wichtig sei das Internet. Über die sozialen Netzwerke lasse sich ein neues Gemeinschaftsgefühl gewinnen und Lethargie überwinden. Georgien sei ein Beispiel für eine gelungene Revolution. Allerdings springe Präsident Saakaschwili ziemlich hart mit Gegnern um, räumt Dobrochotow ein.Es ist einfach chicEine Strategie der Opposition für die Präsidentenwahl im März lässt sich bei der Kundgebung nicht erkennen. Es bleibt bei Symbolik. Jewgenia Albats, Chefredakteurin von The New Times, schlägt vor, ein Bürgerkomitee zu gründen, um Unterschriften für Neuwahlen zu sammeln. Gennadij Gudkow kündigt unter dem Beifall der Menge an, er wolle sein Duma-Mandat zurückgeben. Doch in seiner Partei Gerechtes Russland sieht man das eher skeptisch.Erstaunlich, welche Ausstrahlung das neue Aufbegehren entwickelt. Nach einem Jahrzehnt des Prassens scheint die städtische Schickeria Gefallen am Demonstrieren zu finden. So werden im Viertel von Samoskworetschje auch zwei Lifestyle-Fernseh-Moderatorinnen gesichtet – Ksenia Sobtschak und Tina Kandelaki. Letztere hat nach der Duma-Wahl noch erklärt, sie habe für Putins Einiges Russland gestimmt, weil diese Partei viele neue, von Korruption unbelastete Abgeordnete auf ihrer Liste habe.Für den 24. Dezember will die Protestbewegung zu einem weiteren Marsch des Unbehagens durch Moskau aufrufen. „Wenn dann 300.000 Menschen kommen, kann man Neuwahlen durchsetzen“, mutmaßt die Software-Entwicklerin Julia Starostina. „Die Regierung glaubt, solange es Wurst gibt, bleiben die Leute ruhig. Aber mit der Ruhe ist es vorbei.“ Julia meint, sie könne sich für den sozialliberalen Politiker Grigori Jawlinski mit seiner Partei Jabloko erwärmen. Doch eine Führungsrolle in einer neuen Opposition traue sie nur dem bekannten Blogger Alexej Nawalny zu. Der hat sich in Russland mit seinen Internet-Enthüllungen über die Korruption beim staatlichen Pipeline-Unternehmen Transneft einen Namen gemacht und wird jetzt als Galionsfigur des Protests gehandelt. Dabei bleibt umstritten, dass Nawalny auch ein Bündnis mit den Rechtsextremen sucht. „Ich bin natürlich dagegen, dass bestimmte Ziele bestimmte Mittel rechtfertigen“, sagt Julia. Aber Nawalny versuche, Jugendliche von den Nationalisten zurückzugewinnen.Unter den Rednern des 10. Dezember fehlt Nawalny. Der 35-Jährige sitzt noch eine 15-tägige Haftstrafe ab. Andere wie Boris Nemzow, der in den chaotischen neunziger Jahren Vizepremier war, sind politisch verbraucht oder einfach zu alt, um eine neue Bewegung zu führen.Der Kreml schweigt zu alledem. Putins Sprecher Dmitri Peskow sagt lediglich, nicht mehr als ein halbes Prozent der Stimmen falle unter die Rubrik „Fälschungen“. Präsident Medwedjew schreibt auf seiner Facebook-Seite immerhin, man werde die Berichte aus den Wahllokalen prüfen. Vielen Bürgern ist das nicht genug. Auf Facebook sind die Reaktionen enttäuscht oder wütend.