Kaum eine journalistische Form ist so sehr auf den Hund gekommen wie das Interview. Dabei ist sie die Königsdisziplin des Schreibens: der Showdown von Wissen und Denken. Anders als in Porträts, Reportagen oder Kommentaren kommt in einem Interview alles auf den Moment an. Ein durchgeschriebener Text wächst, wird umgestellt und – im Notfall – auch ausgeschmückt. Wo ein Zitat, eine Information, ein Übergang fehlen, wird improvisiert. Beim Interview ist die wesentliche Arbeit getan, wenn der Schreibprozess beginnt. Hier hängt alles von der Vorarbeit ab, von der Recherche und vom offenen Augenblick des Miteinanders. Wann passt welche Frage? Wann ist Raum zum gemeinsamen Denken? Wann zum Angreifen? Wann zum Zuhören? Ein Schach in Worten, ein Spiel d
Politik : Stimmt das denn?
Es ist Zeit, das Gespräch zu rekultivieren: das Zuhören, das Nachfragen, die "Zwischen-Blicke" – für einen nachrichtlichen Mehrwehrt, für das provokante In-Frage-Stellen
Von
Axel Brüggemann
l des Gegeneinanders, in dem jeder Zug zum K.O. führen und das dennoch nur gemeinsam gespielt werden kann. Eine journalistische Form, die trotz aller Gegensätze von der Empathie lebt, vom Respekt und von der Wahrnehmung des Gegenübers. Was gesprochen wird, ist gesagt. Was vergessen wird, bleibt verloren. Das Interview ist öffentliches Denken im Prozess.Egal, ob in einem nachrichtlichen Gespräch, in einem porträtierenden Interview, in einem provokanten Schlagabtausch oder in einem Austausch von Gedanken, dessen einziger Sinn darin besteht, Menschen beim Denken zu beobachten, lebt das Interview davon, dass zwei gleichberechtigte Personen an einem Ort gemeinsam einen Text schreiben, dass sie einander zuhören, reagieren, Finten legen, abschweifen und wieder auf den Punkt kommen. Nur dann wird der Leser mehr als Worte lesen. Nur dann lernt er das Denken, den Charakter, die Art der Gesprächspartner kennen. Im Interview tritt der Journalist selbst in die Öffentlichkeit, das Medium wird sichtbar – es verwandelt sich vom Beobachter und Beschreiber und wird selbst zum Teil der Nachricht. Der Journalist wird zum Fragesteller, zum Zuhörer, zum Mitdenker und zum Stellvertreter seiner Leser. Etymologisch leitet sich das Interview von den Worten „Zwischen“ und „Blick“ ab – ein Gespräch auf Augenhöhe, ein Miteinander – auch und gerade im Streit.Der Kultur des Sprechens haben wir einige der größten Geistesleistungen zu verdanken: Eckermann und Goethe, Voltaire und Friedrich der Große, Heidegger und Hannah Arendt. Gute Gedanken entstehen erst, wenn sie an einem Gegenüber wachsen, wenn sie in Frage gestellt und gemeinsam gedacht werden. Das perfekte Interview ist eine Simulation von Theorien, ein Überprüfen von eigenen Werten, der eigenen Arbeit – des eigenen Daseins.Korrekturlesen und glattbügelnDoch das klassische Interview existiert in der medialen Wirklichkeit kaum noch: Statt sich Zeit zu nehmen, um an einem intimen Ort gemeinsam mit einem Journalisten zu denken und Gedanken zu entwickeln, laden immer mehr Prominente zu 20-Minuten-Talks in Hotelzimmer ein und speisen möglichst viele Fragesteller von Medien mit möglichst hoher Auflage in sogenannten „Round-Table-Gesprächen“ mit fertigen Antworten ab. Politiker nehmen sich das Recht, das Gesagte Korrektur zu lesen und ihr gesprochenes Wort nach dem Gespräch vom Pressesprecher glattbügeln zu lassen. Sie verfremden die Wahrheit, weil auch die Journalisten das Interview pervertiert haben: Durch den „Borderline-Journalismus“, das halb fiktive Gespräch, in dem die Antworten des Gegenübers hochgejazzt, aufgeblasen und zugespitzt werden, in dem es weniger um den Interviewpartner als um die Chuzpe des Interviewers geht, in dem eine vermeintlich wahrere Wirklichkeit als jene, die wirklich passiert ist, entstehen soll, in dem der Journalismus seine Hybris als Wahrhaftigkeit inszeniert, ist die Augenhöhe verrückt. Der Gegenüber wird zum Phantasma und das Gesagte zum programmierten Mythos. Dabei muss „Borderline“ nicht die Ausgebufftheit eines Tom Kummers haben, der ganze Interviews gefälscht hat – sie findet inzwischen fast überall in der „Postproduktion“ von Zeitungs-, Radio- und Fernsehredaktionen statt: eine Zuspitzung hier, eine Weglassung dort – die Korrektur des Spontanen für den Effekt des Perfekten.Selbst dort, wo das öffentliche Gespräch angeblich gepflegt wird, dekonstruiert es sich selbst: Giovanni di Lorenzo trifft Altkanzler Helmut Schmidt gern auf eine informative Zigarette. Aber inzwischen hat der Journalist seine Fragezone ausgeweitet, sich selbst ins Zentrum seiner Gespräche gerückt, seine Einfühlsamkeit bis zur Pose perfektioniert und dabei die Tugend des Mitdenkens so weit deformiert, dass er selbst Karl Theodor zu Guttenberg weitgehend kritiklos zuhört. Hauptsache, das Gespräch fließt, liest sich gut – und ist leicht verdaulich. Selbst die Ecken und Kanten sind bewusst gesetzt, aber letztlich süß und weich wie Schlagsahne. Helmut Schmidt selbst benutzt die Form des Interviews inzwischen, um seinen Ziehsohn Peer Steinbrück ins Kanzleramt zu hieven. Das Gespräch, dessen Sinn eigentlich das nachvollziehbare Denken ist, verkommt zum Plausch, der nichts anderes als eine Marketingstrategie ist – das „einander Sehen“ ist zu einem Win-Win-Geschäft der Gesprächspartner geworden. Der Leser wird schon lange nicht mehr als potenzieller Mitdenker verstanden, sondern als Endverbraucher, als Käufer oder Wähler.Zum journalistischem Selbstzweck gewordenDas öffentliche Sprechen über die eigene Person, die eigene Vita, die politische Botschaft und das Wortgefecht um Inhalte und Kursbestimmungen wird derzeit besonders im Fernsehen desavouiert: In der allabendlichen Talkomanie hat sich eine Gesprächskultur der Behauptungs-Plattitüden entwickelt, ein inszeniertes, voreingenommenes Gegeneinander von Positionen, deren Inhalte nicht durch rhetorische Größe, sondern durch gespieltes Charisma, durch Populismus und die Kunst des Zwei-Minuten-Statements geprägt sind. Das Gespräch ist zu einer Inszenierung des Gespräches geworden – zu einem gigantischen Als-Ob, in dem der Inhalt austauschbar und die Form gegeben scheinen.Neulich hat der Journalist Moritz von Uslar in der Zeit über einen Interviewband des letzten großen Zeitungs-Fragers, des Österreichers André Müller, geschrieben – eine Lobhudelei, die in der erstaunten Bemerkung von Uslars über sich selbst endet: „Warum habe ich den Interviewer André Müller nie interviewt?“ Sicher, mit seinen „100 Fragen“ hat Moritz von Uslar die Interviewform kurzzeitig neu belebt, das Assoziative, das Freie, das Unvorhersehbare in das gedruckte Gespräch zurückgeholt. Aber auch diese Form hat sich totgelaufen, weil dem Journalisten die Kommentare über seine Interviewpartner irgendwann wichtiger wurden als ihre Antworten, weil seine Fragen so ausgetüftelt waren, dass die Antworten eigentlich egal wurden und weil seine Gegenüber schon bald wussten, was von ihnen gefordert wird: möglichst unterhaltsame Antworten ohne Tiefe. Und vielleicht auch, weil „100 Fragen“ – so wie viele Interviews unserer Zeit – letztlich nur ein Spiel waren, das irgendwann zum journalistischen Selbstzweck wurde.Es ist Zeit, das Gespräch zu rekultivieren: das Zuhören, das Nachfragen, die „Zwischen-Blicke“ – für einen nachrichtlichen Mehrwehrt, für das provokante In-Frage-Stellen, für die Inszenierung der fiktiven Vorstellung und vor allen Dingen, um gemeinsam neu zu denken, mit Freunden ebenso wie mit den Feinden im Wort.