Erst marschierten rechte Bürgerwehren, jetzt bekommen Roma Strafzettel, wenn sie auf die Straße treten: Die unheimliche Welt eines kleinen Dorfs in Ungarn
Noch vor einem Jahr war Gyöngyöspata ein weißer Fleck auf der Landkarte. Doch Ostern 2011 geriet das kleine ungarische Dorf 80 Kilometer nordöstlich von Budapest international in die Schlagzeilen. Man sah Bilder von Frauen und Kindern, die in Busse stiegen und von Mitarbeitern des Roten Kreuzes aus dem Dorf gefahren wurden. Sie brachten sich in Sicherheit vor militanten Neonazis.
Zu Ostern hatte der Anführer der Bürgerwehr "Vederö" (Schutzkraft), Tamás Eszes, Neonazis aus dem ganzen Land auf sein Grundstück geladen. Dort plante er Schieß- und Wehrübungen. Wochenlang marschierten im Ort rechtsradikale Milizen gegen angebliche „Zigeunerkriminalität“ und versetzten Roma in Angst. Vier Mal wurden in den vergangenen Jahren u
n Jahren unmittelbar nach rechtsradikalen Aufmärschen Mordanschläge auf Roma verübt.Seit den Ereignissen im Frühjahr ist die „Vederö“ nun verboten. Das nützt den Roma von Gyöngyöspata jedoch wenig. Zum einen formieren sich die Rechtsradikalen immer wieder neu, zum Beispiel in den Gruppen „Für eine bessere Zukunft“ und „Neue Ungarische Garde“. Beide entsprangen dem mittlerweile verbotenen paramilitärischen Arm der faschistischen Jobbik, der „Ungarische Garde“. Zum anderen droht den Roma von Gyöngyöspata inzwischen Schickane direkt aus dem örtlichen Rathaus. Denn Jobbikpolitiker Orszkár Juhász ist seit Juli Bürgermeister von Gyöngyöspata. Und nun sieht sich die Minderheit im Ort auf ganz neue Weise drangsaliert – mit Strafzetteln.Über die Straße fliegenWer schon einmal in Ungarn übers Land gefahren ist, weiß: In Dörfern wie Gyöngyöspata sind die Gehwege oft schmal und marode, der Autoverkehr ist überschaubar. Die Menschen gehen in der Regel auf der Straße. In Gyöngyöspata werden Roma neuerdings jedoch dafür bestraft, wie sie in Blogs berichten. Demnach musste eine Mutter umgerechnet 30 Euro Strafe zahlen, weil sie mit ihrem Kinderwagen auf die Fahrbahn auswich, als eine kaputte Treppe sie am Weiterkommen hinderte.Doch scheint das Bürgersteig-Gebot nicht für alle Ungarn zu gelten. Die Polizisten gehen wie selbstverständlich auf der Fahrbahn. Auch die rechte Bürgerwehr marschierte im Frühjahr auf den Straßen – und nicht etwa auf den engen Gehwegen. Die Regierung von Premierminister Viktor Orbán ließ das rechte Treiben damals mit Hinweis auf die Versammlungsfreiheit wochenlang geschehen. Die Evakuierung der Romasiedlung spielte sie in der internationalen Presse zu einem lange geplanten Osterausflug herunter – einem von dem die Roma nichts wussten. Die Polizei griff erst ein, als die Gewalt zu eskalieren drohte.Seither zeigen sich die Sicherheitskräfte jedoch umso strikter. Und bei vielen Familien der Roma stapeln sich die Strafzettel, wie sie im Internet berichten. Ein Mann muss nach eigenen Angaben bereits insgesamt rund 300 Euro Strafe zahlen. Ein Riss in seinem Personalausweis habe ihn umgerechnet 30 Euro gekostet. Das Doppelte bekam diesen Berichten zufolge ein Mädchen aufgebrummt, weil sie eine Metallstange aufgehoben hatte – in den Augen der Polizei angeblich eine Waffe. „Ich kann doch nicht über die Straße fliegen“, ärgert sich ein Rom, der ebenfalls einen Strafzettel bekommen hat. „Dort hinten endet der Gehweg, wie soll man denn dort anders über die Straße kommen?“Pflichtdienst für einen HungerlohnEin anderes Mittel der legalen Schikane sehen die Roma in Orbáns "Verpflichtendem Dienst" für Sozialhilfeempfänger, der als Pilotprojekt in einigen ungarischen Ortschaften läuft. Wer länger als 90 Tage arbeitslos ist, wird in Beschäftigungsmaßnahmen gesteckt. Unter Jobbik-Bürgermeister Juhász arbeiten in Gyöngyöspata derzeit in zwei Kolonnen rund 40 Menschen. Nur drei Arbeiter sind Nicht-Roma. Warum ausgerechnet ein Jobbik-Anhänger unter ihnen die Forstkolonne bei der Arbeit bewacht – das wird wohl nur der Bürgermeister wissen.Die Teilnehmer der Beschäftigungsmaßnahmen arbeiten in Vollzeit für rund 150 Euro im Monat, auch in Ungarn ein Hungerlohn. Wer fehlt oder die Arbeit verweigert, dem wird für seine gesamte Familie der Anspruch auf Sozialhilfe gestrichen – drei Jahre lang. In Blogs berichten Forstarbeiter, wie sie Büsche am Ortsrand pflegen mussten. Am Ende habe der Gemeindenotar sie angewiesen, das gesammelte Kleinholz zu verbrennen – was ihnen prompt eine weitere Anzeige der Polizei eintrug. In anderen Fällen bekamen Roma Strafen, weil sie das Kleinholz, statt es auf der Wiese zu verbrennen, als Heizmaterial mit nach Hause nahmen.Der Vorsitzenden der autonomen Roma-Verwaltung, János Farkas, nennt die Maßnahmen Sklavenarbeit. Das Beschäftigungsprogramm mache das Problem der Roma nur größer, meint auch János Ladányi. „Erstens weil es die Schuld den Opfern zuschiebt,“ sagte der Soziologe in einem Arte-Beitrag. „Und zweitens weil es das Leben für die Roma in Ungarn unmöglich macht.“ Landányi sieht in dem Programm vorrangig ein Mittel, um die Roma „aus ihren Siedlungen zu vertreiben“.Tatsächlich geraten offenbar viele wegen unbezahlter Strafen nach Bagatelldelikten und der Hungerlöhne in eine finanzielle Abwärtsspirale, die sie letztlich in die Flucht treibt. Viele Roma wandern nach Kanada aus. Dort stellen ungarische Staatsbürger mittlerweile die höchste Zahl der Asylbewerber.