Die Menschen in Libyen haben ein Sprichwort: ‚Wenn das Brot billig ist, ist das Leben gut’“, sagt Ayman Bin Saud. Der 33-Jährige sitzt in seinem kleinen Computerladen im Zentrum Benghasis. Die Straße vor dem Laden ist mit Müll und Schlaglöchern übersät. Auf dem Schreibtisch steht ein Bild von ihm und seinem besten Freund in Taucheranzügen am Strand. Der Freund wurde während der Revolution von Gaddafis Truppen getötet.
Benghasi ist der zweitwichtigste Ort Libyens und die größte Stadt im Osten des Landes. Hier begann vor einem Jahr die Revolution gegen Diktator Muammar al-Gaddafi. Schon Wochen später war die Stadt befreit, und die Frontlinie verschob sich Richtung Westen: Brega, Misrata, Zintan, Tripoli und schlie
d schließlich Sirte, wo die Revolutionäre den Diktator töteten.Während in weiten Teilen des Landes noch Krieg herrschte, träumten die Menschen in Benghasi schon von der Zeit nach Gaddafi. Am Jahrestag der Revolution ist dort Ernüchterung eingetreten. Brot können sich die meisten zwar leisten, aber sie haben sich von der Revolution mehr erwartet.„Die Menschen in Libyen denken vor allem an ihre wirtschaftliche Situation“, sagt Bin Saud. „Sie wollen neue Schulen, Krankenhäuser, Straßen und sie wollen höhere Gehälter.“Verantwortlich dafür erscheint die libysche Übergangsregierung, die sich in dern ersten Tagen der Revolution in Benghasi gegründet hat. Während der Kämpfe agierte sie als der politische Arm der Revolution. Jetzt erwarten die Menschen von ihr, dass sie das Land wiederaufbaut und den Übergang in die Demokratie leitet. Im Juni soll es Wahlen geben. Das Parlament soll dann eine neue Verfassung schreiben.Doch ein Jahr nach der Revolution wird die Kritik im Land lauter. Im Zentrum Benghasis auf dem Schajara-Platz demonstrieren seit Monaten Dutzende, manchmal Hunderte von Menschen. Khaled Abdallah Mohammed ist einer von ihnen. „Wir haben so viel für die Revolution geopfert, aber wir sehen keine Veränderung“, sagt der 50-Jährige wütend. Er ist seit drei Monaten jeden Abend auf dem Platz.„Ich arbeite in einem Staatsunternehmen und fast alle Führungskräfte sind immer noch Gaddafi-Loyalisten. Und auch die Übergangsregierung wurde nicht gewählt!“, sagt er.Sein Nebenmann Malek Khamis fällt ihm ins Wort. „Wir mögen die Übergangsregierung nicht, sie kümmert sich kein Stück um unsere Forderungen!“ Der 24-Jährige trägt Tarnkleidung, wie so viele auf dem Platz. Khamis ist seit neun Jahren in der Armee, lief aber zu Beginn des Aufstandes zu den Rebellen über. Jetzt wartet er seit Monaten vergeblich auf seinen Sold. „Mal bezahlen sie uns einen Monat und dann wieder drei Monate nicht!“ Die anderen Demonstranten nicken zustimmend.In der Lobby der DemokratenNeben höheren Löhnen und Gerichtsverfahren für Gaddafi-Loyalisten verlangen die Demonstranten von der Übergangsregierung vor allem eines: Transparenz. Oppositionelle unter Gaddafi mussten sich jahrzehntelang verstecken und auch während der Revolution waren die Namen der meisten Mitglieder des Übergangsrats geheim, zum Schutz ihrer Familien.Doch auch jetzt noch, knapp fünf Monate nach Gaddafis Tod, scheinen viele Politiker nicht in der neuen Realität angekommen zu sein. „Wir wissen nicht, wie viele Mitglieder die Übergangsregierung hat, und wir kennen ihre Namen nicht“, sagt Mohammed al Zawam. Al Zawam führt mit seinem Bruder ein kleines Kleidungsgeschäft, und auch er geht regelmäßig auf den Schajara-Platz. „Der Ölexport hat fast das gleiche Niveau wie vor der Revolution erreicht, doch wir wissen nicht, was mit dem Geld geschieht!“, sagt der 27-Jährige.Vergangenen Monat eskalierte ein Protest vor dem Büro der Übergangsregierung in Benghasi. Die Demonstranten stürmten das Gebäude und bedrängten Übergangsregierungs-Chef Mustafa Abdul Jalil. Nur eine Woche zuvor war ein wütender Mob in der Universität von Benghasi auf die Nummer zwei der Regierung, Abdel Hafiz Ghoga, losgegangen. Ghoga trat daraufhin von seinem Posten zurück.„Die Übergangsregierung erklärt uns nicht, was sie tut. Deswegen gibt es ständig Gerüchte“, sagt al Zawam. „Wir warten noch bis zum Jahrestag der Revolution am 17. Februar“, sagt Abdallah Mohammed. „Wenn dann nichts passiert, werden wir etwas tun.“Computerfachmann Bin Saud kennt all diese Probleme, doch er ist weniger kritisch. Er hält die Schajara-Proteste für verfrüht. „Es gibt Probleme, aber so ist es nun mal im Leben“, sagt er. „Insgesamt macht die Übergangsregierung einen guten Job.“ Nur was die geplanten Wahlen angeht, sieht er Schwierigkeiten. 42 Jahre Diktatur und Propaganda haben tiefe Spuren in der libyschen Gesellschaft hinterlassen.„Viele Menschen in Libyen haben sehr traditionelle Vorstellungen. Sie verstehen nicht, was Wahlen bedeuten“, sagt er. Er selbst arbeitet mit mehreren internationalen Organisationen zusammen, um die Menschen über die Wahlen aufzuklären. „Eigentlich sollte die Regierung das machen. Sie sollte Werbung für die Wahlen machen.“Auf der anderen Seite des großen Sees, der das Zentrum Benghasis in zwei Teile teilt, steht weit sichtbar das einst edle Uzu-Hotel. In der Lobby des Hotels treffen sich seit der Revolution täglich Mitglieder politischer Gruppen, Journalisten und Revolutionäre. Bei Kaffee und Zigaretten wird Libyens Zukunft diskutiert und geplant. Doch nicht nur die Wähler, sondern auch die neu erwachte Zivilgesellschaft ist sich noch oft unsicher. Es herrscht viel guter Wille, doch wenige Projekte scheinen konkrete Formen zu haben.„Unsere Partei ist nicht für die Oberschicht, sondern für die Armen“, sagt Majdi al-Sherif, der an einem runden Tisch mit Blick auf den See sitzt. Er und ein Bekannter haben gerade die Free People-Partei gegründet. Wie sie ihren Vorsatz in die neue Verfassung übersetzen wollen, wissen sie nicht genau. „Wir wollen eine Verfassung, die gut für Libyen ist“, sagt der 36 Jahre alte Ingenieur. Sein lila Hemd und breites Lächeln verbreiten Optimismus. Doch er weiß um die Unzulänglichkeiten der neuen politische Klasse. „Demokratie ist ein völlig neuer Weg für uns. Es ist, als ob wir einen lichtlosen Korridor entlanggingen.“Die Dinos stehen jetzt im GartenViele jener, die jetzt hier in den schweren Ledersofas sitzen, haben eine lange Geschichte in der Opposition hinter sich. Doch wer sich unter Gaddafi mit Politik befasste, war Staatsfeind. Viele von ihnen waren jahrelang im Exil oder saßen im Gefängnis.„Früher wäre ich nie in eine Hotellobby gegangen und hätte mich mit Fremden unterhalten“, sagt al-Sherif. „Das hat sich geändert. Die Gesellschaft hat sich geändert.“Salwa al-Tajura sieht das ähnlich. Die 34 Jahre alte Künstlerin sitzt im Garten einer alten Villa im Herzen der Altstadt. Seit der Revolution dient die Villa als Kunstgalerie. „Bisher haben wir kaum materielle Veränderungen gesehen. Doch in den Köpfen der Menschen hat eine Veränderung stattgefunden“, sagt al-Tajura.Hinter ihr steht ein Militärjeep, den sie bemalt hat: grellgelbe Punkte auf rosafarbenem Grund. „Die Armen sind immer noch arm, und die dreckigen Straßen sind immer noch dreckig“, sagt al-Tajura. „Doch jetzt haben wir die Freiheit zu demonstrieren und zu sagen, was wir wollen.“Um sie herum ragen meterhohe Metallskulpturen aus dem Boden, geschweißt aus Kriegsgerät: Dinosaurier, Reiter, Insekten. „Unter dem alten Regime musste alle Kunst Gaddafi preisen“, sagt al-Tajuras Kollege Ali al-Wakwak. „Jetzt habe ich das erste Mal die Möglichkeit zu tun, was ich möchte. Zum ersten Mal kann ich mich ausdrücken“, sagt der 55-Jährige mit einem verschmitzten Lächeln. Die meisten seiner Kunstwerke scheinen auf den erste Blick einfach die schönen Dinge im Leben zu zeigen. Im Erdgeschoss der italienischen Villa stehen, liegen und hängen fast 900 kleine und große Skulpturen: Tänzer, ein Mädchengesicht, ein Angler. Alles hergestellt aus Waffen, die al-Wakwak während der Kämpfe auf dem Schlachtfeld gesammelt hat. „Warum ich die Waffen benutze? Zum einen will ich zeigen, dass man selbst Waffen zu etwas Schönem machen kann. Und zum anderen sind sie einfach ein tolles Rohmaterial.“Doch ganz ohne Verweis auf Gaddafi ist auch seine Ausstellung nicht: „Die Dinosaurier im Garten stehen für Gaddafi. Seine Zeit ist endgültig vorbei“, sagt er.Kunst aus dem SchlachtenschuttDie Villa selbst erzählt ebenfalls die Geschichte der Befreiung Benghasis. Gebaut als Regierungssitz von den italienischen Kolonialherren, die Libyen Anfang des 20. Jahrhunderts beherrschten, diente es im Laufe des Jahrhunderts auch der Monarchie und schließlich Gaddafis Regime als Sitz. Während der Revolution im Frühjahr griffen die Rebellen das Gebäude an und brannten Gaddafis Büros aus.„Es liegt in der Natur Benghasis zu kämpfen. Benghasi ist das Thermometer Libyens. Wenn die Situation hier heiß ist, dann ist ganz Libyen heiß“, sagt Abdel Gadar Bader, der im ersten Stock des Gebäudes steht. Tatsächlich war Benghasi schon während der Kolonialzeit Zentrum des Widerstands gegen die italienischen Besatzer und auch in den Jahrzehnten unter Gaddafi war die Opposition hier am stärksten.Auch Bader hat schon Kunst unter Gaddafi gemacht und organisiert jetzt die Ausstellungen im ersten Stock der Villa. Derzeit zeigt eine Gruppe junger Künstler ihre Bilder: viele Stillleben, viele Landschaften, viel revolutionärer Pathos. Technisch sind viele Bilder hervorragend, selbst wenn manches zuweilen in den Kitsch abgleitet. Die Besucher sind dennoch begeistert. „Ich sehe so was zum ersten Mal in Libyen“, sagt ein Besucher im Vorbeigehen. „Ich wusste nicht, dass wir so viel Talent in unserem Land haben.“Bader selbst malt abstrakte Wüstenlandschaften und -dörfer. Viel Gelb, viel Ocker. „Unter Gaddafi gab es zahllose rote Linien für Künstler. Vor allem Politik und Karikaturen waren unmöglich.“Seine Hoffnungen für die Zeit nach Gaddafi sind groß, doch auch bei ihm wächst die Skepsis. „Ich wollte ein Visum für Deutschland beantragen. Doch genau wie unter Gaddafi müsste ich dafür nach Tripolis fliegen.“ Der Prozess war ihm zu aufwendig, Bader entschied, nicht zu reisen. „Wir haben diese Revolution gemacht, damit nicht mehr alle Macht zentralisiert wird“, sagt er.Auch Künstlerin al-Tajura im Vorgarten der Villa macht sich Sorgen um den Fortgang der Revolution. Sie hat jahrelang in Frankreich gelebt und ist erst am 15. Februar 2011 nach Libyen zurückgekommen, zwei Tage vor dem Beginn der Revolution. „Vor der Revolution habe ich Libyen und Benghasi gehasst. Jetzt liebe ich es, aber ich glaube, wir haben noch nicht gewonnen“, sagt sie und streift ihre braunen Locken zurück.Al-Tajura hofft, dass die Wahlen im Juni eine Regierung bringen werden, der sie vertrauen kann. Sie hofft, dass sie endgültig die Überbleibsel von Gaddafis Regime entfernen wird.„Ich habe nicht das Gefühl, dass die Übergangsregierung schon viel im Land wiederaufgebaut hat. Aber allein dass ich hier sitzen und frei reden kann, ist großartig“, sagt sie und zeigt in Richtung der Skulpturen. „Ich bin optimistisch. Wenn ich es nicht wäre, wäre ich nicht mehr in Libyen.“