Vor 75 Jahren starb der Kabarettist Paul Graetz mit 46 Jahren im amerikanischen Exil. Er hatte es versucht – und doch ohne die „Heimat Berlin“ nicht leben können
Es ist ein Schock für die deutsche Exilgemeinde in Hollywood. Eben noch hörte man von Paul Graetz, er habe endlich ein Engagement ergattert. Gar keine so kleine Rolle, zusammen mit Greta Garbo werde er bei den Dreharbeiten für den Spielfilm Maria Walewska vor die Kamera treten, sagt er dem Komponisten Friedrich Hollaender am Telefon. Am 20. Februar 1937 soll die erste Klappe fallen. Am 16. Februar stirbt Paul Graetz an einem Gehirnschlag, 46 Jahre alt. Das Berliner Kabarett der zwanziger Jahre hat nicht eine – es hat seine Stimme verloren.
Aber dieses Berlin ist so weit weg. In Hollywood allemal. Nur noch Schall und Rauch, wie der Regisseur Max Reinhardt 1919 seine Kleinbühne genannt hat, für die sich Graetz von Anfang an ins Zeug legt. Als Gauner und Ganove,
d Ganove, als Lude und Landstreicher, als Zuhälter und Zeitungsjunge mit Schiebermütze. Es ist das Beste, was der Steinbaukasten Berlin nach Heldentod und Kaiserdämmerung, Kohlrüben und Kriegsanleihen zu bieten hat. Im Keller des Schauspielhauses am Schiffbauerdamm hat der große Kladderadatsch nach dem verlorenen Krieg sein kleines Nachspiel. Im ersten Programm von Reinhardts Kleinkunstbühne taucht Paul Graetz als Taxichauffeur auf und singt: „Wenn der alte Motor wieder tackt, wenn die Räder roll’n, die Weiche knackt. Wenn der Dreher in die Hände spuckt. Wenn der Strom den Dynamo durchzuckt, … sitzt die Neese wieder vorne – Marke Neugeburt!“Mit der Hand über'n AlexanderplatzFür dieses Wiederauferstehungs-Couplet schreiben Friedrich Hollaender die Musik und Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky den Text. Gemeint ist Preußen, mehr noch die kriegsversehrte Reichshauptstadt, die erst im Revolutionswinter 1918/19 und noch mal im Hungerwinter 1919/20 in die Knie geht, aber sich zutraut, wieder auf die Beine zu kommen. Graetz weiß das. Bei Berlin ist er zuständig. Er kommt aus diesem Menschentrichter, wird dort 1890 in einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, hat im dritten Hinterhof Murmeln gespielt, in Rixdorf den ersten Boxkampf gesehen und im Tiergarten „Gummipuppen abgeschleppt“. Wenn der Dichter Walter Mehring mit seinem Chanson Heimat Berlin der Stadt eine Liebeserklärung macht, wird sie von Graetz ins Rampenlicht des Kabaretts geholt. „Een Pneu zerplatzt, die Taxe springt! Mit eenmal platzt das Mieder! Und wer in Halensee jeschwooft, jeschwitzt, dass ihm die Nase looft – der fährt immer mal wieder mit der Hand über’n Alexanderplatz.“Aber Graetz ist nicht nur die eiserne Schnauze, die einer Stadt den Puls fühlt – er wird von Ernst Lubitsch im Stummfilm besetzt und Ende der zwanziger Jahre genauso selbstverständlich im Tonfilm, er spielt bei Alfred Hitchcock, Luis Trenker und Leni Riefenstahl, mit ihm bestreitet der Reichssender Breslau seine erste literarische Funkstunde. Und dann? „Immer mal wieder“ fährt Graetz „mit der Hand über’n Alexanderplatz“, in den Sketchen und Szenen von Tucholsky allemal, der eine Stimme gefunden hat, die berlinischer nicht sein kann. Im Januar 1933, kurz bevor Adolf Hitler die Weimarer Republik ausgeliefert wird, nimmt Graetz im Tonstudio Tucholskys Augen der Großstadt auf. Der Refrain über das flackernde Dasein in der Asphaltblase klingt traurig und wie ein Nekrolog: „Vorbei, verweht, nie wieder ...“Berlins Kabarett-Szene verschwindet fast über Nacht. Graetz feiert noch am Abend des 27. Februar 1933 das zehnjährige Jubiläum Der Lachbühne, des Volkstheaters für Grotesken und Einakter am Weinbergsweg, da hört er, dass am Platz der Republik, der nicht mehr lange so heißen wird, der Reichstag brennt. Graetz flieht nach England, am nächsten Morgen schon bricht er auf, nur mit einer Reisetasche, um nicht aufzufallen. Bei seinen Auftritten hat er oft genug die braunen Kolonnen verspottet. Ebenso kann ihm seine jüdische Herkunft zum Verhängnis werden.In London büffelt er Englisch, übernimmt kleine Filmrollen, spielt sogar an der Seite von Conrad Veidt in einer englischen Verfilmung des Feuchtwanger-Romans Jud Süß. Er spreche Englisch bald so gut, dass sein Deutsch schon einen englischen Akzent habe, berichtet Graetz seinem Mentor in Schweden. 1934 sieht er Tucholsky in Paris ein allerletztes Mal. Der macht kein Hehl aus einem zwiespältigen Eindruck und schreibt an den Schriftsteller Walter Hasenclever: „Der Paule ist ja ein tippanständiger und braver Kerl, aber vollkommen verrückt. Es ist etwas anstrengend, sein Blick ist oft ganz scharf, er sieht gut und richtig, aber alles falsch, was ihn angeht.“Wozu auch?Ende Dezember 1935 wechselt Graetz von London nach New York. Keine neue Heimat, nur das nächste Überleben im nächsten Exil. Erste Station ist Ellis Island, die Internierungsinsel der Einwanderungsbehörde, wo es dauern kann, bevor einer in die Vereinigten Staaten entlassen wird. Ein paar Stunden. Auch Tage oder Wochen der Prüfungen und Verhöre sind möglich, während draußen die Freiheitsstatue ihre Fackel in den Himmel hält. „Warum sind Sie in die Staaten gekommen?“ – wird Graetz gefragt. „Wollen Sie den Präsidenten ermorden? Sind Sie Nationalsozialist? Sind Sie Anarchist? Wie oft wurden Sie verhaftet? Wer hat Ihnen das Visum beschafft? Wie viel Geld haben Sie? Zeigen Sie es!“Was soll er zeigen? Er hat nichts außer der Hoffnung, dass sich die Überfahrt ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gelohnt hat. Auch wenn sich dieses Land nicht gerade leichten Herzens zur Gastfreundschaft gegenüber Leuten wie ihm aufraffen kann, die schwer am Verlust der Heimat tragen und mit so leichtem Gepäck unterwegs sind.„Ich stellte fest“, vermerkt der Schriftsteller Alfred Döblin über sein Asyl in den USA, „Einwanderer, die direkt aus Berlin kamen, konnten sich in New York leichter einfügen als die Emigranten, die sich an die Harmonie der Architektur von Paris gewöhnt hatten.“ Graetz kommt nicht aus Paris, er hat London hinter sich und gespürt, je länger man in der Fremde lebt, desto fremder wird sie. Desto zudringlicher werden die Erinnerungen, die grellen wie die verblassenden Bilder. Das vertraute Licht am Morgen, ein Blick aus dem Fenster auf den Kurfürstendamm und „mit der Hand über’n Alexanderplatz“. Aber da ist nur eine leere Straße, die man verlassen muss, damit sie wenigstens in den Träumen auffindbar bleibt.Noch in New York – Graetz will nach Hollywood – erreicht ihn die Nachricht vom Selbstmord Tucholskys im schwedischen Exil. Er schreibt an Gertrude Meyer, Tucholskys Freundin, „alle Gedanken, die mit einem ‚hätte man‘ beginnen, sind – ist ein Freund gestorben – so sinnlos. Dass es mir nicht vergönnt war, ihn noch mal zu sehen, zu hören, zu sprechen – es läuft immer darauf hinaus, es ist vorbei und aus – gewesen. So wie ich Hunderte von Malen seine Verse gesprochen habe: Vorbei, verweht, nie wieder ...“In den USA sind Mitte der dreißiger Jahre Ganghofer, Karl May und Hedwig Courths-Mahler die am besten verkauften deutschen Autoren. Einen Paul Graetz kennt niemand, will niemand, engagiert niemand. Der schafft es zwar bis Hollywood, trifft Ernst Lubitsch und Max Reinhardt wieder. Doch die können ihm kein Kabarett gründen. Wozu auch? Wer keine einflussreichen amerikanischen Freunde hat, lebt einsam und am Rand des Existenzminimums, von Spende zu Spende der Wohltätigkeitsvereine. Wochenlang geht Paul Graetz jedem Emigranten aus dem Weg und ist endgültig davon überzeugt, dass ein Leben ohne Berlin für ihn auf Dauer sinnlos ist. Und dann klingelt das Telefon, ein Anruf von Metro-Goldwyn-Mayer, ein erlösender Anruf, der zu spät kommt.Walter Mehring trauert im Nachruf: „Paule, ich muss erst begreifen, was da alles mir dir begraben wurde – einer der tragenden Schauspieler der großen Berliner Theaterepoche. Diesmal war’s mehr – es war Heimat Berlin, der vierte Hinterhof in der Mietskaserne mit grindigen Brandmauern, ein Mülleimer und eine verirrte Butterblume und zwei rotznäsige Zille-Gören, die damit Garten spielen ... Und mittendrin eine Schnauze, die nicht klein zu kriegen ist.“ Vorbei, verweht, nie wieder.