Mit Gauck und Merkel stehen bald zwei Ostdeutsche an der Spitze des Staates. Wieviel Protestantismus steckt in diesem Führungsduo, und was bedeutet das für das Land?
Es ist schwer, in der Stimmungsmelange der Republik noch so etwas wie Kohärenz zu finden. In der Welt der Kommentatoren und Blogger werden seit Monaten Suaden über die „politische Klasse“, ihre „Abgehobenheit“ und ihre „Hinterzimmerpolitik“ vom Stapel gelassen. Man liest wütende Philippiken gegen Banker, Lobbyisten, Großunternehmer. Die Zauberformeln, die man dem Treiben der herrschenden Kartelle sodann entgegenstellt, lauten: Plebiszit, Bürgerbegehren, Partizipation, Protest.
Und nun gilt als Präsidentschaftskandidat des Volkes und der Parteien, beide geeint in wilhelminisch anmutender Eintracht – zu der auch immer gehört, dass die Linkspartei nicht mit an den Tisch darf – Joachim Gauck. Dabei hat sich niema
sich niemand sonst aus der Reihe der dauerparlierenden Symposiums- und Akademieeliten des Landes in letzter Zeit so herablassend über Bürgerproteste aller Art ausgelassen wie er. Kaum jemand hat die Ursachen für die Sozialproteste so wenig begriffen. Nur wenige haben wie Gauck in den bedrückenden Jahren der FDP-Clownerien zwischen 2001 und 2009 so unverhohlen Sympathie für diese Verfallsform des bürgerlichen Liberalismus bekundet und dies noch als Freiheitsmanifestationen missinterpretiert.Gauck ist unzweifelhaft der kongeniale Kandidat dieser Freidemokraten, die sich mit guten Gründen zuletzt dem Orkus der politischen Randständigkeit näherten. So war es auch keineswegs Zufall, dass sich bei den Pro-Gauck-Initiativen im Netz 2010 und ebenfalls am vergangenen Wochenende Multiplikatorenprofis aus dem Umfeld der FDP tummelten, die zuletzt nicht viel zu lachen hatten.Gescheitert an der TaktikÜber Gauck haben sich die bis dahin gänzlich zerzausten Freidemokraten plötzlich wieder ins Spiel gebracht. Wichtige Helfer, dabei waren die Sozialdemokraten und die Grünen. Da ihnen konzeptionell zu Angela Merkel partout nichts einfiel und sie alle inhaltliche Opposition zur Kanzlerin weitgehend eingestellt haben, kam ihnen zupass, die Regierungschefin über die Bundesversammlung ärgern und ein wenig in Bedrängnis bringen zu können. Mit Gauck wollte man das gegnerische Lager spalten. Das ist gewiss ein legitimes Spielchen, wenn man es denn bis zum Ende beherrscht und im Griff behält. Eben das aber ist die Frage.Die taktischen Instrumente, die legitimatorischen Versatzstücke und das originäre politische Anliegen von solch trickreichen Manövern müssen zueinanderpassen. Das aber ist nicht recht zu erkennen. So hätte man die Sozialdemokraten schon bei Gaucks erster Kandidatur im Jahre 2010 gern gefragt, ob es sie heute gar nicht mehr interessiert, wie der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen mit einem früheren Ministerpräsidenten und Bundesminister aus ihren Reihen, Manfred Stolpe, umgesprungen ist? Hatte die SPD nicht selber in der Vergangenheit oft genug und mit einigem Recht Bedenken geäußert, wenn sich Gauck zum Ermittler, Staatsanwalt, Richter, Hohepriester und Mediensouffleur in einer Person selbst ermächtigte? Forderten Sozialdemokraten seinerzeit nicht sogar die Schließung der „Inquisitionsbehörde“ des „Sonderbeauftragen“ mit seinem Ego-Gebaren? Ist es ihnen gleichgültig, wenn künftig von einem Bundespräsidenten wie aus der Zeit gefallene Tadel über fehlgeleitete 68er, linksliberale Diktatur-apologeten, Fantasten der Ostpolitik, über den Frevel jeglicher Sozialismusvorstellungen und mögliche Koalitionen mit „Linken“ anzuhören sind? Es sind dies die Botschaften des alten, klassisch konservativ-liberlaen Bürgertums der fünfziger bis siebziger Jahre, die Gauck im Gestus des auserwählten Freiheitskünders repetiert. Und das soll das Elixier für die bundespräsidiale Ansprache der Jahre 2012 bis 2017 sein?Es ist schon interessant: In dem Moment, da sich der neumittige Westerwelle-Liberalismus auf ganzer Linie zu blamieren und politisch zu scheitern droht, in dem Moment versammeln sich die Reste distinkter Altbürgerlichkeit, die sich von „Parteien“ längst abgewandt haben, noch einmal geschlossen um den Freiheitsbürger und protestantischen Pastor aus Mecklenburg-Vorpommern. Sie sagen, sie hätten genug vom verächtlichen Treiben der Parteien und Interessengruppen, vom „Kuhhandel“ in jeder Kompromissbildung. Und die Sozialdemokraten, die in ihrer Geschichte stets die Zielscheibe der Parteien- und Funktionärsbeschimpfung abgaben, sind jetzt fröhlich mit von der Partie.Vor allem: Wer hätte das in den Jahren von Adenauer bis Kohl gedacht, dass mit der Pastorentochter Angela Merkel und dem Pastor Joachim Gauck das alte protestantische Pfarrhaus noch einmal mit Aplomb in das Zentrum von Macht und Deutung in Deutschland zurückkehren würde. Dafür schien sich dieses Milieu als Legitimationsstifter des Wilhelminismus bis 1914 und der deutschnationalen Rechten bis 1933 doch zu sehr diskreditiert zu haben. Der Anspruch des protestantischen Pfarrhauses, die Bildungsbürgerlichkeit schlechthin in Deutschland zu verkörpern und dem Staat die wichtigsten Professoren, Generäle, Diplomaten, Gymnasiallehrer und Richter zu liefern, hatte durchweg etwas Elitäres. Dieses Milieu hatte wenig Interesse an der sozialen Lage der schlechter gestellten Gesellschaftsschichten, es stand im feindlichen Kontrast zur politischen Linken und gerierte sich jederzeit dünkelhaft gegen den Sozial- und Volkskatholizismus.Die Bonner Republik aber lebte aus dem gesellschaftlichen Kompromiss von Sozialkatholizismus und Sozialdemokratie. Die von den beiden Kräften in ihrer Blütezeit vorangetriebene Gesellschafts- und Bildungspolitik sollte die überkommenen Bildungsprivilegien aus der bürgerlich-protestantischen Tradition und Machtstellung sukzessive zurückdrängen. Die große Rentenreform 1957, die industrielle Mitbestimmung, die Bildungsexpansion – welche das katholische Mädchen vom Land wie auch die Arbeiterkinder aus den großen Städten umschloss – gehörten zum Programm sozialkatholisch-sozialdemokratischer Gesellschaftreform. Seit den neunziger Jahren allerdings erlebte man ein zumindest geistig-intellektuelles Rollback, weg von den Pfeilern und Strukturen der Adenauer-, Brandt-, Schmidt- und auch Kohl-Ära. Dem ostdeutschen Pfarrhaus, das unzweifelhaft wesentliche Quellen der Resistenz gegen die SED-Diktatur bereithielt, war die sozialkatholisch-sozialdemokratische Eigenart des bundesrepublikanischen Weges der Demokratie fremd. Ihre Folie war stattdessen und begreiflicherweiser der Ulbricht- und Honecker-Staat.Ein anderer Gauck? Gerade deshalb tat sich Angela Merkel in ihrer neuen bundesrepublikanischen Biografie als Christdemokratin zunächst schwer, die Vorzüge der bundesdeutschen Sozialstaatlichkeit zu erkennen und als historisches Glück zu akzeptieren. Und von daher bedeutete für jemanden wie Joachim Gauck jede antikapitalistische Reflexion, jede Überlegung zur Entprivatisierung des Bankenwesens oder der Regulation von sonst entgrenzten Finanzmärkten schlicht eine Wiederkehr der alten DDR. „Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren“, ist infolgedessen eine ganz typische Gauck-Sentenz, mit der er der Occupy-Bewegung begegnete. Er legte an sie einen Maßstab an, der 1988 zwischen Rostock und Plauen in Bezug auf den Staatsdirigismus gewiss seinen Sinn ergab, aber 2012 gegen die Bankendiktatur nichts mehr hergibt.Kurzum: Konrad Adenauer und Heinrich Lübke – das war zum Schluss für manchen zu viel rheinisch-westfälischer Katholizismus. Merkel und Gauck – in diesem Führungsduo steckt nun aber eindeutig zu viel protestantisch-ostdeutsches Pfarrhaus, um die gesamte gesellschaftliche Breite angemessen zu repräsentieren. Dazu gehört eben auch die organisierte Arbeitnehmerschaft, dazu gehören tiefgläubige Katholiken und Anhänger des auf ewig geltenden Eheversprechens, aber auch Alt-68er, Neuaktivisten des Antifinanzkapitalismus, klassische Linke, Saar- und Emsländer, rheinische Karnevalisten, schwäbische Kleinunternehmer, altbayerisches Landvolk, Arbeitslose und Abgehängte im Ruhrrevier.Was also ist zu erwarten? Müssen wir uns jetzt abermals „unsäglich alberne“ Ruckreden anhören, die uns zur Anpassung an die globalen Märkte auffordern, vor leistungsfeindlichen Wohlstandsregimen warnen und das Menetekel spätrömischer Dekadenz in lauen Sozialstaatsgesellschaften an die Wand malen? Auszuschließen jedenfalls ist es nicht; und schlimm genug wäre es in jedem Fall.Aber klar, man kann es natürlich viel gelassener sehen. Immerhin sind die rhetorischen Fähigkeiten des designierten Bundespräsidenten beachtlich, jedenfalls dann, wenn man oratorische Qualität mit Pathos gleichsetzt. Richtig ist auch, dass in der Rolle des Bundespräsidenten sich schon andere Konservative in der bundesdeutschen Geschichte gezügelt und politisch ausgefächert haben. Es kann also durchaus so kommen, dass Joachim Gauck in den nächsten Jahren ebenfalls Verständnis für die Kritik der unruhigen Jugend und für die Verunsicherung der Bürger im Lande bekunden wird.Gleichwohl: Es bleibt schwer vorstellbar, dass ihm Antworten oder Impulse gelingen auf die neuen sozialen Fragen in einer tief gespaltenen und von unten bis zur Mitte entkollektivierten, deutungsarmen Gesellschaft in einem von oben dekretierten, transnationalen Oligarchiesystem. Aber um diese Fragen wird es gehen müssen.