Nach zwei schwierigen Jahrzehnten werden überall im Land neue Vorstädte, Bahnen und Straßen gebaut. Selbst die Sahara wird energisch besiedelt, aus Oasen werden Städte
Und plötzlich ist sie doch da – die Metro von Algier! Niemand glaubte mehr an die Vollendung des seit 1981 versprochenen Bauwerks. Doch am 31. Oktober 2011 nahm Präsident Abdelaziz Bouteflika tatsächlich als erster Passagier Platz in einem der großzügigen Waggons, samt einer Gruppe unbeholfen wirkender Begleiter. Es war wie ein Symbol für die Widersprüchlichkeit dieses Landes, das technisch so weit vorangekommen ist, das sogar die Wüste urbar macht, und das doch oft hadert mit seiner eigenen Rückständigkeit.
An einem sonnigen Winternachmittag will ich die Metro ausprobieren. Die erste Linie verläuft von der Großen Post im Zentrum bis in den Südosten Algiers. Das mit Siemens-Hochtechnologie ausgestattete Verkehrsunternehm
sunternehmen beschäftigt nur etwa 500 Mitarbeiter, ergänzt durch 300 Sicherheitskräfte, teils in Uniform, teils getarnt als Publikumsberater. Die lichtdurchflutete Zugangshalle ist um ein Mehrfaches schöner und breiter als ihre Vorbilder in Paris. Fahrgäste sind jedoch nur wenige zu sehen. Als ich ein Foto machen will, werde ich sofort darauf hingewiesen, keinen der uniformierten Sicherheitskräfte aufzunehmen. Das ist gar nicht so einfach. Offenbar ist die Furcht groß vor einem Attentat auf die Metro.Ist das der Grund, warum die U-Bahn bisher kaum angenommen wird? Oder ist der Fahrpreis – umgerechnet etwa 50 Cent – zu hoch? Jedenfalls lindert die wunderschöne neue Metro mit ihren zehn Stationen auf neun Kilometern bislang noch nicht den Verkehrsinfarkt, der die Zwei-Millionen-Metropole samt Umfeld lähmt. Rundum leben noch einmal knapp sechs Millionen Menschen, insgesamt etwa ein Viertel der Bevölkerung des Landes. Es gibt weitere große Pläne. Die erste Linie soll noch verlängert und durch zwei weitere Strecken plus Straßenbahnen und Seilbahnen ergänzt werden, damit auch der Höhenunterschied zwischen der Küste und den steilen Anhöhen Algiers bewältigt werden kann. Doch sollte das Bautempo sich nicht der Geschwindigkeit annähern, mit der hier Neubausiedlungen entstehen, wird sich weder am Verkehrschaos noch am Smog etwas ändern.Haschisch aus Marokko Satellitenstädte wie das von chinesischen Firmen errichtete Sabbala bei El Achour haben die Wohnungsnot spürbar vermindert. Entstanden sind aber reine Schlafstädte. Es gibt Moscheen, doch fehlen andere Freizeiteinrichtungen – Spielplätze, Kinos, Sportanlagen. Auch von Cafés keine Spur. Der Ingenieur Boualem ist trotzdem froh, dass er mit seinen 42 Jahren nun eine Wohnung in Sabbala bekommen hat. Alle sehnen sich danach, aus der Großfamilie auszuscheren und mit Frau und Kindern eine Privatsphäre zu haben.Boualem nimmt mich mit zu seiner Schwester, die in der Nähe des ostalgerischen Constantine lebt. Nur ein ganz dünner feuerroter Streifen kündigt den Sonnenaufgang an, als wir mit seiner 18-jährigen Tochter Radia aufbrechen – mitten in der Nacht, um nicht schon in Sabbala im Stau zu stecken. Sechsspurig ist die transmaghrebinische Autobahn ausgebaut, die bald von Mauretanien bis zur ägyptischen Grenze führen soll. Der algerische Abschnitt hat elf Milliarden Dollar gekostet.Vorbei an den malerischen Bergketten und -schluchten der Kabylei, später durch die Weite der Hochebenen, erreichen wir nach fünf Stunden Constantine. Ein Fortschritt, denn früher waren für die Strecke neun Stunden nötig. Aber für die letzten 16 Kilometer zur Kommune El Khroub, dem Wohnort von Boualems Schwester, brauchen wir nochmals anderthalb Stunden. Stau, Stau überall. Ähnlich wie im Fall der Metro von Algier steigt auch hier kaum jemand auf die Bahn um. Es gibt eine Trasse aus der französischen Kolonialzeit, auf der auch Waggons für Personen verkehren. Doch es schreckt wohl ab, dass nur Allah weiß, ob und wann der Zug kommt.Bei Boualems Schwester Sofia werden wir mit einer dampfenden Schuchschucha erwartet, einer Spezialität der Region: in kleine Bissen zerrissener Blätterteig, übergossen mit einer kräftigen Soße aus Lammfleisch, Kichererbsen und Tomaten. Kaum sitzen wir, geht das Licht aus. Stromausfall! Weil es dazu häufig kommt, hat Sofia rasch ein paar Kerzen bei der Hand.El Khroub wird offiziell immer noch als Dorf geführt. Doch ist es inzwischen auf 200.000 Einwohner gewachsen. Die Kommune gilt als die baufreudigste in Algerien, auch wenn es kaum reguläre Jobs gibt. „In jedem neuen Stadtviertel werden sofort eine Grund- und eine Mittelschule gebaut“, erklärt Boualem. „Trotzdem liegt die Klassenstärke weiter zwischen 45 und 50 Kindern. Da kann kein Lehrer vernünftig unterrichten – es ist viel zu eng.“Sofia ist gelernte Hebamme und Koordinatorin mehrerer Zentren für Mutter- und Kinderschutz. Trotz der beeindruckenden Bautätigkeit ist sie skeptisch, ob das Land der demografischen Herausforderung gerecht wird. Inwieweit hat sich Geburtenkontrolle in Algerien durchgesetzt, frage ich. Haben auch unverheiratete Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln? Sofia bejaht das, in ihren 30 Jahren im Beruf habe sie durchaus Fortschritte erlebt. Sie berichtet von einer großen Aids-Aufklärungskampagne unter Berufsschülern ab 17 Jahren. „Wir wissen, dass sie schon sexuelle Beziehungen haben und erklären ihnen, dass Kondome sowohl gegen Krankheiten als auch vor ungewollten Schwangerschaften schützen“, erzählt Sofia. „Die Jugendlichen hören da immer sehr aufmerksam zu.“Sie arbeitet auch mit Nomadenfamilien, die im Sommer in den Norden ziehen, weil die Herden im Süden nichts mehr zum Weiden finden. „Die Frauen warten schon auf uns. Wir beraten sie dann, untersuchen sie und bieten Verhütungsmittel und Impfungen an, auch für die Kinder.“Es komme kaum noch vor, dass Frauen ihrem Mann oder der Schwiegermutter verheimlichen, die Pille zu nehmen. „Aber die meisten Paare zeugen so lange Kinder, bis sie mindestens einen Sohn haben“, sagt die Familienberaterin. In den achtziger Jahren habe Algeriens Bevölkerungszuwachs bei 4,6 Prozent gelegen. Heute werde offiziell von 2,2 Prozent gesprochen. Doch Sofia zweifelt: „Ich glaube, diese Zahl ist frisiert.“ Einen Geburtenrückgang sieht auch sie. Nur habe das wenig mit Bewusstseinswandel zu tun. Im Jahrzehnt des Terrorismus nach 1990 seien viele Männer ums Leben gekommen. Ein weiteres Heiratshindernis sei die Schwierigkeit, Arbeit und Wohnung zu finden.Angesichts ihrer eigenen Armut sähen viele Menschen einfach keine Perspektive. „Diese Hoffnungslosigkeit zeigt sich auch darin, dass wir 300.000 Drogensüchtige haben.“ Ich frage, was für Drogen genommen werden. „Alles, was es gibt: Haschisch aus Marokko, auch Kokain und Ekstasy“, meint Sofia. „Die meisten können sich keine teuren Drogen leisten und inhalieren Klebstoff. Manchmal schnüffeln schon Elfjährige.“Am nächsten Tag begleitet uns Sofia auf einer Tour durch die Sahara. Absurderweise habe ich als Europäerin diese Region viel öfter bereist als meine Gefährten. Boualem war vor zehn Jahren das letzte Mal in der Sahara, Radia und Sofia waren es noch nie. Für die meisten Nordalgerier – wenn sie sich einen Urlaub überhaupt leisten können – heißt Reisen: ein Visum für Frankreich ergattern.Sobald man – unterwegs in der Sahara – den Kamm des Aurès-Gebirges überquert hat, tritt man in eine andere Lichtsphäre ein. Das fahle Winterlicht des Nordens wandelt sich schlagartig in das überaus helle und farbige Licht der Sahara. Die kündigt sich auch dadurch an, dass die Täler bereits wie liebliche Oasen aussehen. Kaum eine Stunde später breitet sich vor uns eine riesige Ebene aus, die jetzt Steppe und im Sommer Wüste ist. In diese ungeheuere Weite einzudringen, ist das größte spirituelle Erlebnis, das ich kenne.Grüner GürtelEs fällt auf, dass hier – wesentlich weiter südlich als früher – Schafherden weiden können. „Ja, es gibt seit etwa zehn Jahren viel mehr Niederschlag als früher“, bestätigt Boualem. „Unser Teil der Sahara leidet nicht an den gleichen Problemen wie die südlichen Nachbarländer.“ Es ist ein Erfolg des sogenannten Grünen Gürtels – eines staatlichen Aufforstungsprojekts der siebziger Jahre, das ein Vordringen des Sandes stoppen sollte. Damals bezweifelten viele, ob es überhaupt eine Wirkung haben würde. Nun ist der Gürtel in manchen Gegenden, beispielsweise zwischen Djelfa und Laghouat, zu einer effizienten Barriere gegen die Ausbreitung der Wüste geworden.Zu Radias Freude tauchen bald auch Kamelherden auf. Da sie oft ohne Hirten unterwegs sind, blockieren sie nicht selten die auch hier mehrspurig ausgebauten Straßen. Mich begeistern die riesenhaften Elektrizitätsleitungen, die parallel zur Straße verlaufen. „Das sieht ja aus, als würde hier schon für Desertec gebaut?“, frage ich vorsichtig. Boualem bestätigt: „Ja, wir sind bei Desertec dabei und nutzen die Sonnenenergie. Aber ehe wir Energie nach Europa exportieren, müssten erst einmal bei uns die Stromausfälle aufhören.“Das früher als Stadt der tausend Kuppeln bekannte El Oued hat sich wie viele Oasen enorm vergrößert. Heute ist es wohl eher eine Stadt mit dreitausend Kuppeln. Bewirkt hat das indirekt der Terrorismus: In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten sind viele Algerier aus dem Norden in den Süden geflohen und haben offenbar auch Arbeit gefunden. Auch hier errichtet der Staat unablässig Neubauviertel – immer öfter mit einer Architektur, die sich nach lokalen Traditionen richtet.Viele hier leben vom Erdöl, das auf Förderbasen wie Hassi Messaoud gewonnen wird. Andere verdienen nicht schlecht am Handel. Auch die Landwirtschaft hat sich entwickelt. Weil das Grundwasser unter den malerischen Sanddünen nicht tief liegt, werden Dattelplantagen traditionell in Trichtern gepflanzt, die in den Sand gegraben werden. Der Sand muss dann zwar immer wieder nach oben gebracht werden, aber ein aufwändiges Bewässerungssystem kann man sich sparen. Die Dattelwirtschaft hat sich erholt, seit sie wieder privat betrieben werden kann. Um El Oued herum florieren heute mehr Oasen denn je. Und endlich ist auch etwas wahr geworden, was in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit von 1962 nicht gelingen wollte: Unter künstlicher Bewässerung werden mittlerweile so viele Kartoffeln angebaut, dass El Oued zum zweitwichtigsten Lieferanten des Landes wurde. Es scheint so, als ob die Zukunft Algeriens in der Sahara liegt. Doch vielen seiner Bürger sind die Fortschritte zu klein.Trotz seiner Schönheiten und Altertümer, die in vielerlei Hinsicht die der Nachbarländer übertreffen, wollte Algerien nie ein Tourismusland sein. Die Hotelzimmer, in denen wir übernachten, sind denn auch trotz europäischer Preise äußerst ungepflegt. Die salzverkrusteten Wasserhähne zu öffnen, erfordert Kraft. Ob das Duschwasser abfließt, ist Glücksache, es kann genau so gut eine beängstigende Lache bilden. Und als Radia eine Kakerlake über den Boden eilen sieht, verkündet sie, dass sie doch viel lieber nach Paris geflogen wäre.Beim frugalen Frühstück treffen wir dann aber eine deutsche Touristengruppe, die ausgesprochen munter wirkt. Im Extremtourismus geschulte Ausländer lassen sich von der ungebrochenen Magie der Sahara betören. Zudem wissen sie, dass sie ihren gewohnten Komfort bald wieder haben. Nur Algerier schämen sich wegen ihrer miesen Hotellerie, weil sie es endlich einmal besser haben wollen, auch im eigenen Land.