Ein oberflächlicher Beobachter könnte den Eindruck haben, die großen Medienunternehmen hassten die technische Entwicklung – dabei ist es nicht Hass, sondern Angst, die sie umtreibt. Seitdem der legendäre Filmindustrie-Lobbyist Jack Valenti 1982 den Videorekorder mit dem Würger von Boston verglich, wurden technische Neuerungen stets als Godzilla-artige Kreaturen verteufelt, die aus dem Meer auftauchen, um sie in ihrer Existenz zu bedrohen.
Während der vergangenen 30 Jahre hat sich die Branche in den USA für 15 Gesetze eingesetzt, die ihre Verfügungsgewalt über die Inhalte festigen sollten. Währenddessen entwickelte sich die Technik immer schneller weiter und lockerte den Griff stets auf's Neue. In diesem scheinbar nie endenden Kampf mar
Übersetzung: Holger Hutt
Kampf markiert der 18. Januar 2012 ein entscheidendes Datum. Es war der Tag, an dem das Internet zurückschlug. Mike Masnick, Gründer von TechDirt und einer der am besten vernetzten Blogger von Silicon Valley, erinnert sich daran, wie er mit geöffnetem Laptop in Washington durch die Flure des Senats rannte und verzweifelt versuchte, ein Wlan-Signal zu finden.Um ihn herum herrschte Chaos. Inmitten einer Kakophonie aus Telefonen, versuchten die Praktikanten des Betriebs der wütenden Anrufe und E-Mails Herr zu werden, mit denen sich Menschen aus ganz Amerika und darüber hinaus über den Versuch empörten, mit einem von Hollywood unterstützten Gesetz die offene Kultur des Netzes für immer zu zerstören. Wikipedia und die Social News Webseite Reddit gingen einen Tag lang offline und wurden darin von tausenden anderer, kleiner wie großer Seiten unterstützt. Google schwärzte aus Protest sein Logo und auf Twitter beschwerten sich Schüler darüber, dass sie ohne Wikipedia ihre Hausaufgaben nicht machen können.In einem der Senatorenbüros, die Masnick besuchte, gingen 3.000 Anrufe ein. Innerhalb weniger Stunden war der Stop Online Piracy Act (SOPA) ebenso erledigt wie der Protect IP Act (Preventing Real Online Threats to Economic Creativity and Theft of Intellectual Property Act, kurz: PIPA). In Europa stützte dies die Gegner von ACTA, des von den USA unterstützten internationalen Urheberrechtsabkommens, das auf dem ganzen Kontinent zu Protesten geführt hat. Länder wie Bulgarien, Deutschland, die Niederlande, Polen oder die Slowakei haben alle mit dem Argument die Unterschrift verweigert, ACTA bedrohe Redefreiheit und Privatsphäre. Das Gesetz kommt erst einmal nicht zustande. Aber für wie lange? „Die Branche beherrscht das zur Perfektion“, sagt Masnick. Die Motion Picture Association of America (MPAA) – Valentis altes Revier und eine von Washingtons einflussreichsten Lobbyorganisationen – hat in der Schlacht zwar ordentlich etwas abbekommen, aber kaum jemand glaubt, dass sie sich nicht wieder fangen wird.Der OberpiratViele Medienunternehmen sind verärgert über die Art und Weise, wie der Kampf um SOPA vonstatten ging. Zwar hat der Protest viele Stimmen, es gab aber keinen Zweifel, wen die Manager der Branche für ihn verantwortlich machten: Silicon Valley im Allgemeinen und Google im Besonderen. Präsident Barack Obama habe sich „mit den Zahlmeistern von Silicon Valley zusammengetan" schreib Rupert Murdoch, zu dessen News Corp-Imperium auch die Fox-Studios gehören. „Google ist der Oberpirat, der kostenlos Filme streamt und um sie herum Anzeigen verkauft“, so Murdoch auf Twitter. „Kein Wunder, dass es Millionen für die Lobbyarbeit ausgibt.“Aber der Versuch, Google verantwortlich zu machen oder das ganze als Schlacht zwischen Silicon Valley und Hollywood darzustellen, würde bedeuten, dass man eine entscheidende Veränderung in der Medienlandschaft falsch darstellt – sagen die, die auf eine stärkere Öffnung des Internets drängen.Elizabeth Stark, die sich seit Jahren für eine Lockerung der Urheberrechte stark macht, sieht im Kampf um SOPA einen Meilenstein in einer viel weiter reichenden Debatte über das Wesen des Netzes, welches viel offener sei, als die geschlossene und vom Urheberrecht geschützte Welt der vor-digitalen Zeit. „Das war kein Kampf zwischen Google und Hollywood," sagt Stark, die als Visiting Fellow am Information Society Project in Yale arbeitet. „Das war ein Kampf zwischen 15 Millionen Internetnutzern und Hollywood. Sie wollen das nicht verstehen. Ich glaube, die denken, wir könnten ein paar Funktionäre in einem Raum zusammenbringen und das dann das Internet nennen. Nun, jetzt wissen sie, dass das nicht funktioniert.“Vor diesem Hintergrund glaubt Stark nicht, dass die Auseinandersetzung beendet ist. Die Verliererseite zieht ihre Truppen zusammen. Der Mediengigant Viacom, zu dem Paramount Pictures und Comedy Network gehören, hat Googles YouTube auf eine Milliarde Dollar verklagt. Er wirft dem Videokanal vor, er lasse zu, dass seine Nutzer urheberrechtlich geschütztes Material von Sendungen wie South Park und The Colbert Report konsumieren. Es ist unwahrscheinlich, dass es vor den US-Wahlen im November zur Verabschiedung eines Gesetzes kommt. Wikileaks hat aber gezeigt, dass die USA in Spanien bereits auf ein Gesetz im Stile von SOPA gedrängt haben und in der Tech-Community zweifeln nur wenige daran, dass SOPA wieder aufgegriffen wird.Nachdem das Gesetz wieder in der Schublade gelandet war, beschuldigte der Chef des Verbandes der amerikanischen Musikindustrie (Recording Industry Association of America – RIAA), Cary Sherman, Wikipedia und Google in der New York Times, sie hätten Fehlinformationen verbreitet, um einen „digitalen Tsunami“ auszulösen. Das werfe Fragen darüber auf, „wie der demokratische Prozess im digitalen Zeitalter funktioniere“. „Die Übertreibungen und Unwahrheiten, die auf den Seiten einiger der weltweit beliebtesten Webseiten zu lesen waren, stellten einen Missbrauch von Vertrauen und Macht dar“, so Sherman. Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales zufolge geht das völlig an der Sache vorbei : „Es ist mir egal, was sie sagen. Da hat jemand wenig Ahnung von dem, was in Washington, mit der Öffentlichkeit und seiner eigenen Branche passiert.“Faire NutzungEs gibt gute Argumente dafür, die Rechte von Urhebern zu schützen, aber es hat sich nun gezeigt, dass sich diese Regeln nicht auf das digitale Zeitalter anwenden lassen – nicht zuletzt deshalb, weil hier nicht einfach nur andere Firmen von Urheberrechten betroffen sind, sondern gewöhnliche Bürger. „Die Öffentlichkeit ist der Auffassung, dass es zu weit gegangen ist“, sagt Wales. „Es ist durchaus möglich, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir den Vormarsch dieser Lächerlichkeit stoppen können.“Das Internet habe die Welt so stark verändert, dass die bestehenden Gesetze nicht mehr angemessen seinen, so Wales weiter. „Vor 50 Jahren war das Urheberrecht eine industrielle Verordnung, mit der die meisten Leute nichts zu tun hatten. Damals konnte man sich noch nicht so leicht in der Situation wiederfinden, eine Straftat begangen zu haben.“ Heute fordern die USA die Auslieferung des 23-jährigen britischen Informatikstudenten Richard O'Dwyer wegen mutmaßlicher Urheberrechtsverletzungen. „Wie hätte vor 50 Jahren ein Junge, der in Großbritannien in seinem Keller sitzt, in den USA ein Verbrechen begehen können?“Worin bestehen die legitimen Grenzen des Urheberrechts? Welchen ethischen Maßstab legt man beim Kopieren an? „Von all dem ist noch nichts geklärt. Das wird Zeit brauchen“, meint Wales. Bis zum 18. Januar drehte sich die Debatte unter Juristen um die Ausweitung und Durchsetzung der herrschenden Regeln. Nun hofft er, es könnte der Raum für eine breitere Debatte geschaffen worden sein. „Wir müssen auch wieder wichtige Fragen über die Dauer von Urheberrechten in die Debatte einbringen. Sie wurde immer wieder verlängert, ohne dass dies irgendjemandem genutzt hätte. Wir müssen über eine faire Nutzung sprechen – welche Art von Kopien die Öffentlichkeit anfertigen und nutzen darf, ohne Schwierigkeiten zu bekommen.“ Wenn zum Beispiel jemand ein Video von der Geburtstagsparty seines Kindes ins Netz stellt und im Hintergrund ein urheberrechtlich geschütztes Lied darauf zu hören ist, „dann handelt es sich dabei nicht um eine Raubkopie. So gehen wir heute mit Musik um“, meint Wales. „Vieles von dem, was die Leute heutzutage machen, ist nicht legal, sollte es aber sein. Man kann das sagen und dennoch gegen eine vollständige Freigabe votieren.“Stark weist auf eine Studie des schwedischen Musikverbands Musiksverige hin, nach der Musikpiraterie in Schweden seit der Einführung des Musikstreaming-Services Spotify erheblich zurückgegangen ist. „Sie belegt, was wir schon immer gesagt haben: Die Leute wollen die Künstler für deren Arbeit entlohnen.“Reddit-Mitgründer Alexis Ohaniano stimmt zu: „Im Augenblick bin ich optimistisch. Es handelt sich hier um sehr komplexe Themen. Ich denke, wie viele andere Rechte auch haben wir unser Leben im Netz für selbstverständlich genommen, bis es infrage gestellt wurde. Ich denke, wir sind jetzt auf der Hut.“Doch die Medien-Bosse sind dies ebenfalls. Viele blicken auf die Musikindustrie und fürchten, dass sie als nächstes dran sind. Seitdem die Peer-to-peer Tauschbörse Napster 1999 startete, fielen die Verkäufe von Tonträgern in den USA um 53 Prozent von 14,6 auf 6,9 Milliarden im Jahr 2010. Die digitale Welt ist weit weniger lukrativ als der Verkauf von DVD´s.Ohne McDonalds MerchandisingIm vergangenen Jahr verdiente die Filmindustrie weltweit 30 Milliarden an den Kinokassen. Der Autor des Hollywood Economist, Ed Epstein, schätzt, dass die Kinoeinnahmen ungefähr 10 Prozent der Einnahmen ausmacht, die ein Film einspielt. Der Rest kommt aus Kabel- und Satellitensendern, Bezahlfernsehen, Videoverleih, DVD-Verkauf und digitalen Downloads. All dieses zusätzliche Geld fließt aus Quellen, die Hollywood zunächst bekämpft hat.Doch dieses Mal könnten die Sorgen der Branche Epstein zufolge möglicherweise berechtigt sein. Wie die Musikindustrie gezeigt hat, sind digitale Verkäufe nur einen Bruchteil der physischen Verkäufe wert. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass die Filmindustrie sich verändert.Beim diesjährigen Sundance-Filmfestival war ein neuer Player mit von der Partie, der 17 der gezeigten Filme finanziert hatte. Dieser Player waren Sie. Die drei Jahre alte Webiste Kickstarter, die Gelder für die Finanzierung von Kreativprojekten auftreibt, hat die 17 Filme beim Sundance sowie 33 weitere beim South by Southwest-Festival im März finanziert. Das Unternehmen ist damit zu einem bedeutsamen Akteur im Independent-Film-Business geworden, der es unbekannten Talenten ermöglicht, mit ihren Ideen direkt bei den Leuten vorstellig zu werden. Kickstarter-Mitbegründer Yancey Strickler sieht hierin lediglich den Anfang einer grundsätzlichen Veränderung in der Branche.„Ich denke, wir sind an dem Punkt angekommen, wo wir uns fragen, ob wir denn überhaupt eine Filmindustrie brauchen, um einen Film zu realisieren; oder eine Musikindustrie, um Musik zu machen. Die Leute können sich nun direkt an ihr Publikum wenden. Und dessen Ansprüche unterscheiden sich wesentlich von denjenigen einer Industrie. Unternehmen interessieren sich für Merchandising-Kooperationen mit McDonalds – das ist nicht notwendigerweise das, wonach das Publikum sucht oder worum es dem Künstler geht.“Strickler war dieses Jahr auf dem Sundance, wo eine Reihe von Filmen, die von Kickstarter finanziert wurden, Deals für den Vertrieb angeboten bekamen. Viele lehnten aber ab, weil die Angebote ihnen zu schlecht erschienen.„Man kann jetzt direkt ins Netz gehen, oder zu Video on demand, oder einen Vertrag mit Independent-Kinos abschließen – all das sind heute tragfähige Optionen. Sehen Sie sich nur den Erfolg dieses Joseph Kony-Videos an. Das ist erst der Anfang.“