Wladimir Putin tritt seine dritte Präsidentschaft an. Die erste Runde gegen die außerparlamentarische Protestszene ging an ihn. Aber er muss das Land modernisieren
„Rossija bes Putina!“ – „Russland ohne Putin“, riefen Zehntausende auf den Moskauer Großdemonstrationen im Winter. Und nun das: Am 7. Mai, zwölf Uhr Moskauer Zeit, werden Gardisten die Präsidentenstandarte in den Andrejew-Saal des Kreml tragen, damit Wladimir Putin dort seinen Amtseid ablegen kann. Aber deshalb zu sagen, dass die Protestbewegung, von der man in Moskau momentan nur noch wenig hört, umsonst war, greift zu kurz.
Viele sehen in der dritten Amtszeit eines Staatsoberhauptes, das Russland schon zwischen 2000 und 2008 geführt hat, ein Bekenntnis zum autoritären Staat und eine Chance für die restaurative Tendenz. Doch bedarf diese Präsidentschaft statt voreiliger Urteile eines differenzierenden Blicks. Die Protest
ie Protestierer haben einiges erreicht: Sie zwangen Putin, Ende Dezember – fünf Tage nach dem ersten Moskauer Marsch des Zorns – einen Erlass zu unterschreiben, in jedem Wahllokal künftig WebKameras zu installieren. Gleichzeitig musste der damalige Staatschef Dmitri Medwedjew eine Wahlrechtsreform auf den Weg bringen, die demnächst – schon unter Putin – in Kraft tritt. Sie erlaubt eine vereinfachte Zulassung kleiner Parteien, einen Verzicht auf die Sieben-Prozent-Hürde für den Einzug in die Duma und die Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure, die 2004 kassiert wurde. Auch wenn es für unabhängige Bewerber weiterhin schwer bleibt, für ein solches Amt zu kandidieren, diese Revision ist ein Zugeständnis an die aufständischen Großstädter.Strategie „Russland 2020“ Zwar gab sich Putin noch im Dezember überzeugt, US-Außenministerin Hillary Clinton habe das „Signal für die Protestbewegung gegeben“. Doch dürfte er längst erkannt haben, wie sehr das Aufbegehren einer unumgänglichen Modernisierung der Gesellschaft dienen kann. Mit ihrem Ein-Punkt-Programm Für faire Wahlen hat die Protestszene den Kreml geradezu eingeladen, mit der Strategie Russland 2020 zu reagieren, die Ankunft im 21. Jahrhundert zu beschwören: Wie es ist, kann es nicht bleiben. Diese Gesellschaft zu modernisieren, ist existenzielles Gebot – das Muster für die Zukunft ist längst gefunden. In der Strategie Russland 2020 sind vorerst 120 Schritte konzipiert, das Land zu erneuern. Inzwischen arbeiten 23 Arbeitsgruppen für Putin, um ein neues Wachstumsmodell zu entwerfen, sozialen Sprengstoff zu entschärfen und Welthandelsmacht zu erhalten.Wenn man dem Ökonomen Wladimir Mau, Koordinator aller Strategiegruppen, glaubt, dann soll eine bisher nachfrageorientierte Ökonomie durch ein angebotsorientiertes System ersetzt werden, das den risikofreudigen, vom Staat geförderten Unternehmer braucht. Dies dürfte weniger der paternalistisch eingestellten, auf den Erhalt sozialer Wohltaten bedachten Wählerschaft Putins als vielmehr jener urbanen Elite gefallen, die den Präsidenten nicht mit Gesten der Sympathie überhäuft. Mau merkt dazu an, Medwedjew und Putin bestünden „mehr als die Gesellschaft an sich“ auf einer Modernisierung der Wirtschaft. Sie hielten es mit der Auffassung, dass wegen der sozialen Grundstimmung ein solcher Wandel nur durch Reformen von oben möglich sei, folglich der starke Staat gebraucht werde.Damit ist eine Machtphilosophie beschrieben, die in Russland Tradition hat. Unmittelbar nach Putins Wahlsieg am 4. März ging dem Protest der „Neuen Bürger“ die Luft aus. Es fehlte noch an gesellschaftspolitischen Entwürfen, die mehr zum Ausdruck brachten als ein notwendiges: Wir wollen ehrliche Wahlen! Bei sozialen Konflikten wie der Einführung von Schulgeld, der Armut im ländlichen Raum oder der Feindseligkeit einer russischen Mehrheitsbevölkerung, die Gastarbeiter aus dem Kaukasus ausgrenzt, sich aber in Moskau von Tadschiken die Straßen fegen lässt, werden nur kleine Gruppen aktiv. Aus Angst vor einem Grundsatzstreit scheut die Demokratiebewegung bislang derart brisante Fragen. Im Rückblick fragt man sich deshalb, warum Putin und Medwedjew im September 2011 ihren riskanten, arrogant wirkenden Ämtertausch verkündet haben und damit den liberalen und linken Teil der Mittelschicht gegen sich aufbrachten.Die gebührende AntwortInzwischen hat der alte und neue Präsident einen nach der umstrittenen Duma-Wahl vom Dezember erlittenen Popularitätsverlust wieder wett gemacht. Waren die Pro-Putin-Voten zum Jahreswechsel nach Umfragen des WZIOM-Instituts auf 54 Prozent abgesackt, lagen sie Ende April 2012 wieder bei 68 Prozent. Aber das ändert nichts daran, dass das urbane Milieu politisiert bleibt und sich jederzeit zu öffentlich artikuliertem Widerspruch erheben kann. Nur eine Äußerung aus den höchsten Zirkeln der Macht kann schnell zu erneuten Protesten führen.Ein solcher Anlass könnte sein, dass die internationale Finanzkrise stärker auf Russland durchschlägt und der Regierung monetäre Reserven für die Sozialausgaben ausgehen. Ein Fall des Ölpreises von gegenwärtig 120 Dollar pro Barrel auf 80 oder 90 Dollar wäre „für unser Land ein Schock“, meint Ex-Finanzminister Aleksej Kudrin. Nur, wer rechnet beim Blick auf die Rohstoffmärkte ernsthaft mit einem solchen Preisverfall?Dass Wladimir Putin die Außenpolitik einer Inventur unterzieht, scheint ausgeschlossen. Vorgänger Medwedjew blieb trotz manch konzilianter Offerte bei der nationalen Sicherheit kompromisslos. Zwar unterzeichnete er 2009 mit US-Präsident Barack Obama in Prag einen Abrüstungsvertrag für strategische Nuklearwaffen. Militärisch relevanter – auch als politische Waffen – sind heute jedoch wegen der sich häufenden regionalen Konflikte Kurz- und Mittelstreckenraketen. Und bei diesem Equipement ihrer Streitkräfte verharren Moskau und Washington auf unversöhnlichen Positionen.Die US-Regierung hält zudem an ihrem Plan fest, in Mittelosteuropa einen Anti-Raketen-Schirm aufzuspannen. Bereits wenige Tage nach Obamas Wahlsieg im November 2008 hatte Medwedjew erklärt, sollte es dazu kommen, werde er Iskandr-Abwehrraketen in der Region Kaliningrad stationieren. Aber diese Antwort hat er bisher nur angekündigt. Doch wenn Putin wegen des Projektes Raketenabwehr dem NATO-Gipfel Ende des Monats in Chicago fernbleibt, könnte diese bald gegeben werden.