Thilo Sarrazin stellt im Berliner Nobelhotel sein Buch "Europa braucht den Euro nicht" vor. Wieder verlässt er sich auf seine Zahlen und übersieht Wesentliches
Eigentlich hätte sich der Ökonom und Statistikfan vor Schmerzen winden müssen: Wie viel an Bruttoinlandsprodukt, Herr Sarrazin, ging Deutschland eigentlich verloren, als Sie auf der heutigen Pressekonferenz im Berliner Promi-Hotel Adlon gefühlte zehn Fußballmannschaften mit Ihrer als „Vortrag“ getarnten Vorleserei langweilten? Entweder hatten wir uns als bekanntlich faule Truppe die Einleitung und Ihren Ausblick schon selbst reingezogen (unter Auslassung des ziffernträchtigen Textfleisches natürlich) oder hätten uns zumindest nicht mühen müssen, mitzuschreiben, was da ohnehin steht.
Gewiss hätte Thilo Sarrazin auch für dieses Ereignis noch die passende Statistik parat, so wie er in seinem Buch Europa braucht den Euro ni
en Euro nicht jede seiner manchmal evidenten und oft auch vernebelnden Behauptungen mit einer Statistik zu belegen versucht. Dass der Boden statistischer Tatsachen mindestens so unsicher ist wie der von ihm so geschmähte Euro, sollte einer, der bei der Einführung der gemeinsamen Währung immerhin, wie er einräumt, „schwankend“ war, eigentlich wissen.Es gäbe da natürlich auch eine andere Rechnung, die des Privatmannes Sarrazins nämlich, der nicht mehr Politiker ist und, wie er sagt, es nun viel schwerer hat, seine Wahrheiten, „die nicht immer neu sind“, unters Volk zu bringen. Das Blitzlichtgewitter, das ihn empfing, erinnerte an einen Popstar – oder vielleicht dem, wenn uns die Bundeskanzlerin über den Austritt aus dem Euro informiert hätte. Über mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit können sich Sarrazin und Thomas Rathnow von der DVA, die das „Skandalbuch“ (Stern) verlegt, jedenfalls nicht beklagen. Wobei die angekündigten Proteste vor dem Hotel, wie sie Günther Jauch am Sonntag vor dem Gasometer erleben musste, entweder ganz ausgeblieben oder kurz vor der Presselesestunde bereits über die Bühne gegangen waren.Sarrazin selbst, dem es erklärtermaßen auch um die Souveränität der armen Schuldnerländer zu tun ist, die Deutschland derzeit als „Geisel“ nehmen, wirkte während des Auftritts jedenfalls nicht sonderlich souverän. Gegen den aus Hannover angereisten, rhetorisch begabten Volkswirt Stefan Homburg, der das Buch vorstellte, wirkte er sogar noch blasser als sonst. Der fasste in vier kompakten Thesen zusammen, was Sarrazin derzeit so umtreibt: Dass die Politiker aufgrund ihres „magischen Denkens“ die Schuld am „strukturellen Versagen der Finanzpolitik“ trügen; dass es mit dem europäischen Rückgrat, Deutschland, angesichts einer Schuldenstandsquote von 81 Prozent viel schlechter bestellt sei, als die öffentliche Meinung wahrhaben wolle; dass die Einführung des Euro von Anfang an ohnehin eine Luftnummer gewesen sei und alle Hoffnungen, die auf ihn gesetzt worden waren, sich nicht eingelöst hätten; und schließlich dass das seit Jahren von uns alimentierte Griechenland noch immer in Saus und Braus lebe, gemessen jedenfalls am privaten Verbrauch und verglichen mit Ländern wie Estland, das in Sarrazins Augen offenbar auf nationaler Ebene einlöst, was er von deutschen Hartz IV-Empfängern einmal gefordert hat: von vier Euro am Tag zu leben. Und weil man als waffenloser Sekundant sogar ein bisschen mutiger sein darf als der Duellant selbst, verstieg sich Homburg zu der These, die Währungsunion widerspräche „der Natur des Menschen“, und da man den Menschen „naturgemäß“ nicht so rasch ändern könne, wie das sozialistische Experiment ja gezeigt habe, solle man den Euro ganz aufgeben.Ohne SelbstzweifelVon „natürlichen“ Entwicklungen und Ausleseprozessen weiß auch Sarrazin in seinem Buch viel zu berichten, das im übrigen ein veritables Anschauungsobjekt für die Verblendungszusammenhänge ist, in die so mancher, Marx hätte gesagt: bürgerlicher Ökonom verwickelt ist. Im Unterschied zu seinem Lautsprecher Homburg will Sarrazin zwar nicht, dass Deutschland Frankreich absichtlich im Stich lässt; aber er verlangt von der Politik, dass alle in Maastricht und sonstwo geschlossenen Verträge rigide eingehalten werden und die EZB sich wieder auf ihre Rolle als Bundesbank besinnt, statt zügellos Schulden aufzukaufen. In einem „natürlichen“ Prozess schieden sich auf diese Weise die Euro-tauglichen Länder von denen, die einfach nicht in den Club passen. Damit erledigten sich auch alle anderen Fiktionen: Zum Beispiel das Peinlichkeitsgefühle erregende ökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd, das aufgrund des notorischen Schuldgefühls im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg Deutschland glaubt, einebnen zu müssen. Jedenfalls, so lassen Sarrazins Ausführungen vermuten, wird sich der „gute Zustand der deutschen Infrastruktur“ und der „Glanz deutscher Ingenieurskunst“ erst wieder so richtig abheben, wenn die Länder reinlich nach ihren Fähigkeiten und Leistungen geschieden sind und keine „unklaren Wetten auf Kosten deutscher Interessen“ mehr eingegangen werden. Dann kann das „Europa der Vaterländer“ wirklich erblühen.Wie immer bei Sarrazin vermengt sich manch Richtiges – etwa sein Hinweis auf den die Demokratie und die Staatssouveränität der Schuldnerländer gefährdenden Kurs der derzeitigen Schuldenpolitik – mit viel Falschem und national Borniertem. Ob die von Merkel vertretene Formel, dass Europa scheitere, wenn der Euro fällt, tatsächlich richtig ist, ist dabei ebenso zu hinterfragen wie ihr gesamtes Krisenmanagement. Offenbar kommt einem Sarrazin, ganz arroganter Finanzexperte, aber überhaupt nicht in den Sinn, die Entstehungsgeschichte der Europäischen Union und ihren damit verbundenen undemokratischen Aufbau zu fokussieren; vielleicht, weil die Expertokratie, der er eine Stimme geben will, selbst Teil des europäischen Dilemmas ist.Ob er, Sarrazin, in den letzten Jahren eigentlich schon einmal in Athen gewesen sei, um zu sehen, ob die normalen Leute dort im Konsum schwelgen, wird er von einem studentischen Kollegen gefragt. Nein, um Zahlen zu beurteilen, brauche er nicht in ein Land fahren, kontert Sarrazin ganz ohne Selbstzweifel, darin wohl einig mit den Brüsseler Bürokraten, die noch niemals eine süße Banane aus La Palma goutiert haben, aber genau wissen, dass sie für den europäischen Markt nicht taugen! Denn Menschen, weiß Sarrazin – angesprochen auf Freitag-Verleger Jakob Augstein, der Sarrazin in seiner Spiegel-Kolumne der „Gefühlsblindheit“ verdächtigt –, „die sich nicht für Zahlen interessieren und nichts von Zahlen verstehen, neigen dazu, blind um sich zu schlagen.“ Da dächte man doch eher an betriebsblinde Statistikfreaks mit manischem Sparzwang und neurotischem Geltungsdrang.