Die Frage, ob die NATO-Staaten mit dem Krieg gegen Jugoslawien tatsächlich das Ziel verfolgten, ein autoritäres Regime davon abzuhalten, ein Volk zu unterdrücken, läßt sich nicht zuletzt durch eine kritische Würdigung der Mittel entscheiden, die dabei zur Anwendung kamen. Das Bundes umweltamt hat eine Studie zu den ökologischen Auswirkungen des Krieges in Jugoslawien erstellen lassen. Sie liefert empirische Beweise für die These, daß die NATO völkerrechtswidrige Methoden der ökologischen Kriegsführung praktizierte. Andere Beispiele für diese Form der Kriegsführung waren in der jüngeren Geschichte die Entlaubung von Mangrovenwäldern in Vietnam (1964 - 1975) oder die Entzündung von Erdölquellen wäh
Politik : Phosgen-Wolken über Pancevo
Erstmals seit der Entlaubung der Wälder in Vietnam wurde die Zerstörung der Umwelt wieder zum direkten Bestandteil einer Militärstrategie
Von
Knut Krusewitz
#228;hrend des Golfkrieges (1991).Der Krieg gegen Jugoslawien war nach 1945 der erste gegen eine entwickelte Industriegesellschaft in Europa. Auf dem betreffenden Territorium befanden sich zu Kriegsbeginn in der Nähe großer Städte Industriekomplexe der Petrochemie, Erdölraffinierung und Düngemittelproduktion sowie Fabrikations- und Speicherkapazitäten der Chemieindustrie. Diese Anlagen enthielten Destruktionspotentiale, die durch militärische Zerstörung unkontrolliert freigesetzt werden können und dadurch schwere Umwelt- und Gesundheitsschäden verursachen. Genau diese Eigenschaften machten sie attraktiv für die Zielplaner der NATO.Offenbar ging die politische und militärische Führung des Paktes davon aus, sie dürfe die Umwelt des Gegners nachhaltig schädigen, um ihn so vernichtend schlagen zu können. Diese Annahme ist allerdings völkerrechtswidrig. Einer der wichtigsten Grundsätze des modernen Kriegsvölkerrechts besagt, daß »die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegsführung« haben (Art. 35, Abs. 3, Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen vom 12. 8. 1949). Ebenso verboten ist - was der künftige EU-Kommissar Verheugen (SPD) als Abgeordneter 1990 noch wußte - »eine Kriegsführung, die ausgedehnte, lang-anhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursacht«. (s. Günter Verheugen, Rede zum Humanitären Kriegsvölkerrecht, in: Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 11. Wahlperiode, 189. Sitzung, S. 14.627)Deshalb sind seit Ende des Vietnamkrieges, mit dem die US-Armee die ökologische Kriegsführung erstmals zum integralen Bestandteil ihrer Strategie erhob, militärische Eingriffe in die Umwelt völkerrechtlich verboten. Allerdings müssen sie so gravierend sein, daß sie - auch unter Berücksichtigung der Kriegsverhältnisse - das tragbare Maß überschreiten.Ich unterstelle, daß auch die Völkerrechtsexperten der NATO vor Kriegsbeginn wußten, daß sie im Begriff waren, verbotene Methoden anzuwenden - und daß Verletzungen der angeführten Bestimmungen als Kriegsverbrechen geahndet werden können. Deshalb folgere ich, daß Kriegsverbrechen ein Mittel der NATO waren, um Krieg gegen Jugoslawien zu führen. Die UN-Menschenrechtsbeauftragte Mary Robinson forderte daher Anfang Mai nicht zufällig, neben den serbischen Gewaltverbrechen auch die NATO-Luftangriffe vom Tribunal in Den Haag untersuchen zu lassen. Das würde erklären, weshalb die NATO während ihrer 78tägigen »humanitären Intervention« niemals über die Umweltkriegspraktiken informierte und deren katastrophale ökologischen und gesundheitlichen Folgen als »Kollateralschäden« verharmloste - als unbeabsichtigte, aber kriegsnotwendige Vernichtung von Mensch und Gut. Mit anderen Worten, die Formel von den eingetretenen Kollateralschäden war die irreführende Erklärung für Begleiterscheinungen des Einsatzes verbotener Methoden der ökologischen Kriegsführung.Entmündigung zivilgesellschaftlicher UmweltinstanzenDie NATO nahm sich also nicht nur das »Recht zum Krieg«, sondern auch das »Recht zum Kriegsverbrechen«. Und weil dieser Krieg zwangsläufig zu schweren Umweltschäden führen mußte, versuchte sie nicht nur, die komplexe ökologische Kriegsrealität zu steuern, sondern logischerweise auch das Umweltbewußtsein der Zivilgesellschaft darüber.Selbstverständlich ist der NATO-Militärführung bewußt, daß erst das Ganze das Wahre ist, weshalb sie derzeit ein erhebliches Interesse daran hat, daß wissenschaftliche Vorstellungen über die Umweltfolgen moderner Kriege lückenhaft bleiben. Nur dann kann sie - wie gehabt - eigenständig darüber entscheiden, welche Umweltkriegsdaten als wichtig, unerheblich, wahr oder falsch zu gelten haben. Erst vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum aus NATO-Sicht die Zerstörungen von Chemieanlagen, Treibstoffdepots, Ölraffinerien, von Brücken, Kraftwerken und Abwassersystemen, was zur großflächigen Verseuchung von Wohngebieten und Agrarflächen führte, eben keine Umweltkriegsfolgen darstellen, sondern bloß die ökologisch, humanitär und völkerrechtlich vernachlässigbaren Begleitschäden konventioneller Luftangriffe.Das erklärt allerdings nicht, warum sich wichtige zivile Umweltinstanzen in den NATO- und EU-Staaten gleichschalten ließen oder selbst entmündigten. Statt das Ausmaß der Kriegsfolgen zu ermitteln, verzichteten sie auf jedes Meß- und Aufklärungsprogramm in der Region. Indem sie die militärischen Verschleierungsinteressen kritiklos übernahmen, entstand ein funktionierendes zivil-militärisches Propaganda- und Zensurkartell. International einflußreiche Organisationen wie Greenpeace, Green Cross oder BUND fielen während des Krieges im Gegensatz zu kleinen Umweltgruppen in Jugoslawien, Albanien, Bulgarien oder Griechenland als Aufklärungsinstanz völlig aus.Auch der Umweltwissenschaftsbetrieb in den NATO-Staaten hielt sich - sieht man ab von den Universitäten Thessaloniki und Xanthi, vom Umweltbundesamt in Berlin oder dem Institute for Energy and Environmental Research in Takoma Park, Maryland - mit kritischen Kommentierungen der alliierten Kriegsführung zurück, auch dann noch, als erkennbar wurde, daß sie eine weiträumige, langanhaltende ökologische Katastrophe auslösen würde.In einem Protestschreiben an den UN-Generalsekretär vom 18. April 1999 listete die Belgrader Regierung erhebliche Umweltkriegsfolgen auf, die bereits nach wenigen Tagen auftraten.: Die »Zerstörung von Anlagen der chemischen, erdölverarbeitenden und pharmazeutischen Industrie«, die sich »in der unmittelbaren Nähe von Großstädten abspielt, wie der Zwei-Millionen-Stadt Belgrad, Novi Sad, Pristina, Pancevo (oder) Krusevac, führt zur Verdunstung großer Mengen gefährlicher Giftmaterien, die die Menschen, die Luft, den Boden, das ganze Leben in Gefahr bringen. Letztes Beispiel ist das Bombardement von Anlagen der chemischen Industrie in Belgrad, Pancevo und Novi Sad. Dadurch flossen große Mengen von Ammoniak und Erdöl in angrenzende Flüsse ...« (Bundesrepublik Jugoslawien; Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten, Schreiben an den UN-Generalsekretär, dt. Übersetzung, 18. 4. 1999, Seite 1)Störfall-Szenarien und 2.000 ToteDie Zielplaner der NATO verfügten nachweislich über detaillierte Informationen hinsichtlich der jugoslawischen Industriestruktur und damit über die notwendigen Daten für die ökologische Kriegsführung. Sie verfügten mit Marschflugkörpern zugleich über ein Mittel, das sie befähigte, diesen Umweltkrieg zu führen. Dazu ein Beispiel: Zwischen dem 15. und 18. April wurden in Pancevo mit Cruise Missiles ein Petrochemie- und Düngemittelkomplex, eine Ölraffinerie und eine Vinylchlorid-Monomer- sowie eine Aethylen-Anlage angegriffen und zerstört. In Pancevo leben 140.000 Menschen - es liegt etwa 15 Kilometer von der Zwei-Millionen-Metropole Belgrad entfernt.Der Angriff auf diese Destruktionspotentiale setzte enorme Mengen unterschiedlicher Gifte frei, darunter Vinylchlord, Phosgen und Quecksilber. Vinylchlorid, das beim Verbrennen giftige Gase bildet, ist ein Carcinogen. Bereits zehn Tonnen gelten unter Störfallchemikern als »kritische Menge«, deren Austritt dramatische Folgen hätte. Unmmittelbar nach der Bombardierung wurden stark erhöhte Vinylchlorid-Konzentrationen in der Umgebung der VCM-Fabrik gemessen. Etliche Tonnen des krebserregenden Ethylendichlorids leiteten Fabrikarbeiter in die Donau, um zu verhindern, daß es explodierte. Dazu das Umweltbundesamt: »Da PVC-Anlagen in der Regel mit Anlagen zur Chlorerzeugung verbunden sind, ist ferner ein Austritt von Quecksilber und Natronlauge in den Boden und/oder Wasser sowie Chlor in die in die Luft möglich«. (Umweltbundeamt; Erste Einschätzungen zu den ökologischen Auswirkungen des Krieges in Jugoslawien, unveröffentl. Manuskript, Berlin, 5. Mai 1999, S. 13). Derartige Quecksilber-Altlasten gefährden die Gewässer über Jahrzehnte.Durch die Zerstörung der PVC-Anlagen trat auch Phosgen aus, wodurch die NATO das Leben der Zivilbevölkerung im Ballungsraum Belgrad bewußt gefährdete. Das Bündnis entwickelte schon vor 20 Jahren ein ausgeprägtes Interesse für Phosgen-Störfälle. Einer der damaligen Forscher, der Chemiker Fritz Varenholt, referierte 1979 auf einem NATO-Symposium in Rom die Ergebnisse einschlägiger Szenarien: »Für Phosgen, das im Ersten Weltkrieg als Kampfgas gegen die Franzosen eingesetzt wurde und heute in einer Reihe chemischer Prozesse benötigt wird, wurde vom TÜV Rheinland 1978 berechnet, welche Auswirkungen ein Störfall unter extrem ungünstigen Bedingungen haben kann - in dicht besiedelten Regionen wie dem Raum Köln über 2.000 Tote und fast 20.000 Schwerverletzte.« (Egmont Koch/Fritz Varenholt; Im Ernstfall hilflos? Katastrophenschutz bei Atom- und Chemieunfällen, Frankfurt a.M. 1982, S. 193)Mit wieviel Toten und Verletzten rechnete die NATO im April 1999 bei ihren Angriffen auf Pancevo?Unser Autor ist Hochschullehrer an der TU Berlin und leitet die Rhöner Friedenswerkstatt im UNESCO-Biosphären-Reservat