Während Wissenschaft und handelnde Akteure darüber diskutieren, welche Spielräume der Politik, der nationalstaatlichen zumal, noch bleiben, haben sich weite Teile der Bevölkerung längst ihr Urteil gebildet: Sie hegen massive Zweifel an der Problemlösungsfähigkeit und am Problemlösungswillen der politischen Akteure, wenden sich ab von einer Politik, die sich eher an kurzfristigen, von Wahlen und politischen Karrieren vorgegebenen Zeithorizonten zu orientieren scheint als an der Lösung großer gesellschaftspolitischer Probleme und die sich von ihren Lebensrealitäten und Bedürfnissen weit entfernt hat.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Ruf nach „Führung“ seit geraumer Zeit Konjunktur hat. Er spi
at. Er spiegelt den Wunsch nach einfachen Lösungen in einer zunehmend komplexen Welt, die Sehnsucht nach jener starken Person, die angesichts überwältigender Herausforderungen die konkreten Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu lösen vermag. Mit der öffentlichkeitswirksamen Anzeige von „Führungsvakuen“, „Führungsschwäche“ oder „Führungsversagen“ wiederum ist in der politischen Debatte häufig der Anspruch verbunden, es selber – qua Kompetenz und Tugend – besser zu können. Deutschland fehle es an Führung, klagen Wolfgang Clement und Friedrich Merz in ihrem jüngst erschienenen Buch „Was jetzt zu tun ist – Deutschland 2.0“. Darin belegen die Politrentner eine der Grundregeln nicht nur der deutschen Führungsdebatte: Wer öffentlichkeitswirksam Führung einfordert, reklamiert sie gerne für sich. Garniert sind solche Forderungen häufig mit dem Lamento, dass alles zu langsam gehe und endlich „durchregiert“ werden müsse, um „alternativlose“ Reformen durchzusetzen.Jenseits von Leitartikel-LyrikSchon hier wird deutlich, dass die Popularität des aus Interviews und Leitartikel-Lyrik nicht mehr wegzudenkenden Führungsbegriffs nur noch durch die Unschärfe und instrumentelle Beliebigkeit, mit der er verwendet wird, übertroffen wird. Dem Konzept gebührt jedoch eine differenziertere Betrachtung, welche es ermöglicht, Missverständnisse, wie sie etwa aus der Übertragung von Erkenntnissen aus anderen Ländern oder der nur begrenzt analogiefähigen Privatwirtschaft auf die deutsche Politik entstehen, auszuräumen und stattdessen ein Verständnis für das unter den Bedingungen der repräsentativen Demokratie Angemessene zu entwickeln.Denn Führung ist weitaus mehr als ein Gemeinplatz und politischer Kampfbegriff: Führung ist beides, eine vielschichtige politisch-soziale Tatsache und demokratietheoretische Notwendigkeit – und zwar sowohl mit Blick auf Problemlösungsfähigkeit als auch Legitimation in der repräsentativen Demokratie. Beide Aspekte sind eng miteinander verknüpft. So ist die wachsende Kluft zwischen Regierenden und Regierten, die Distanz zur Politik, wie sie sich in Umfragen zur Zufriedenheit mit politischen Parteien artikuliert, ja auch ein Spiegel der Hilflosigkeit der politischen Eliten, Zukunftsprobleme glaubhaft zu thematisieren und überzeugend in den Griff zu bekommen.Bedenkliche TheoriedefiziteDoch ist der deutsche Diskurs zum Thema „Leadership“ etwa im Vergleich zum angloamerikanischen Raum theoretisch unterentwickelt und – historisch bedingt – nach wie vor von großer Skepsis geprägt. So wird Führung alltagssprachlich vorwiegend mit Durchsetzungsstärke, formalen Hierarchien und, getreu der Formel „Große Männer machen Geschichte“, den Leistungen und individuellen Eigenschaften herausragender historischer oder zeitgenössischer Führungspersönlichkeiten in Verbindung gebracht. Dieser in seinen Wurzeln bis zum platonischen Ideal des Philosophenkönigs zurückreichende, demokratiepolitisch aber bedenkliche Ansatz versteht Führung letztlich als Herrschaft charismatischer, kompetenter und integrer Individuen, als Lehre idealer Persönlichkeiten. Er ignoriert, dass Führung auch immer soziale Zuschreibung, mithin soziale Konstruktion ist (darauf verweist schon Max Weber in seinen Ausführungen zur charismatischen Herrschaft). Vor allem aber reduziert er gute Führung auf Zielerreichung und Effektivität und ist somit letztlich indifferent gegenüber den Axiomen und Verfahrensregeln der Demokratie.Schließlich muss Führung in der Demokratie sowohl problemlösend als auch integrationsstiftend sein. So geht es einerseits darum, Probleme, vor denen das Gemeinwesen steht, frühzeitig zu identifizieren und adäquate, „zukunftssichere“ Antworten darauf zu finden. Dies kann auch bedeuten, unpopuläre Entscheidungen gegen akute Widerstände durchzusetzen, denn Führung in der repräsentativen Demokratie impliziert immer auch ein gewisses Maß an „unabhängiger Verantwortlichkeit“, für das der Führende in nachfolgenden Wahlen allerdings zur Verantwortung gezogen werden kann. Sie erschöpft sich nicht darin, ein Amt zu erobern und es durch die sklavische Orientierung an aktuellen demoskopischen Befunden abzusichern.Vor allem aber beinhaltet Führung in der repräsentativen Demokratie inhärent die Aufnahme und Auseinandersetzung mit den Präferenzen des Souveräns, des Wählers. Wo eine solche, dem Idealbild der Demokratie ebenso wie demjenigen von Führung innewohnende Responsivität abnimmt oder gar abhanden kommt, wo sich Führung verselbstständigt oder im Dienste vermeintlicher „Sachzwänge“ ihre demokratische Rückbindung verliert, schwindet die Legitimität des Führungspersonals. Die Führungsaufgabe ist also eine doppelte: Gute Führung im öffentlichen Raum bedeutet Integrationsstiftung und Problemlösung, indem sie eine breite Teilhabe an effektiven Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen im Sinne des Gemeinwohles ermöglicht. Hierin, in den Spezifika der Demokratie, liegt der Grund dafür, dass Führungsverständnisse und -praktiken zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Raum nur begrenzt übertragbar sind. Führungskräfte in der Wirtschaft agieren innerhalb hierarchischer, zumeist autoritärer Strukturen. Wo sie auf quasi-demokratische Verfahren der Wissensgenerierung und Entscheidungsfindung zurückgreifen, tun sie dies ziel- und zweckgebunden, zur besseren Positionierung im Markt. Ihre Legitimation und Beförderung erfolgt primär auf der Basis bisheriger Leistungen, während das politische System dem Gemeinwohl dienen und Integration schaffen soll.Führung ist keine EinbahnstraßeDass „Führung“ stattfindet, stattfinden muss, lässt sich aus dem repräsentativ-demokratischen Prinzip der temporären Delegation von Macht durch Wahlen erklären. Es ist ein imaginärer Pakt auf Zeit zwischen Wählern und Gewählten, Folgenden und Führenden. Anders, als der Begriff „Folgende“ suggeriert, ist diese Bezugsgruppe im demokratischen Führungsprozess jedoch weder passiv, noch bedeutungslos. Gefolgschaft so aufzufassen, hieße letztlich einem antiquierten, elitären Verständnis repräsentativ-demokratischer Politik anzuhängen. Führung in der modernen Demokratie ist keine imperative Einbahnstraße. Wer Führung auf persönliche Kompetenzen und Tugenden verengt unterstellt, dass der Gebildete und Informierte allein wisse, was „richtig“ sei, dass es ein objektiv „Richtiges“ gebe, dass unmittelbare „Sachzwänge“ existierten, die nicht weiter zu hinterfragen seien. Heute, angesichts sich verändernder Beteiligungsmuster, wie sie sich in auflösenden Sozialmilieus, volatilerem Wahlverhalten und zurückgehender Parteimitgliedszahlen manifestieren, lässt sich Demokratie indes weniger denn je auf die Akzeptanz von Entscheidungen einer durch Wahl legitimierten Elite reduzieren. Dazu kommt: weder Staat noch Parteien können angesichts hochkomplexer, intransparenter Problemlagen für sich in Anspruch nehmen, die Vielfalt politischer Optionen und relevanter Interessen umfassend abzubilden und über ausreichend Wissen zu verfügen, um allein „gute“ Entscheidungen zu treffen.Führung im öffentlichen Raum setzt unter den Bedingungen der global vernetzten Wissensgesellschaft voraus, möglichst inklusive und transparente Prozesse gesellschaftlicher Entscheidungsfindung zu initiieren, indem sie die in der gesamten Gesellschaft verteilte Erfahrung und Intelligenz moderiert, integriert und zu politischen Optionen aufbereitet. Dafür bedarf es offenerer, kooperativer Netzwerkverfahren, die die Selbstorganisation des vorhandenen Wissens, aber auch neue Formen der Beteiligung und Kollaboration fördern. In den letzten Jahren sind jenseits klassischer direktdemokratischer Beteiligungsmechanismen wie Bürgerbefragungen oder Referenden diverse neuen Verfahren der dialog- und deliberationsorientierten Bürgerbeteiligung entwickelt und in der Praxis erprobt worden, die gerade zu komplexen gesellschaftlichen Themen einen differenzierten Willensbildungsprozess in der Bevölkerung ermöglichen. Zudem steht mit dem Internet heute eine Partizipationsinfrastruktur zur Verfügung, die den veränderten Verhältnissen einer Gesellschaft entgegenkommt, die sich zunehmend außerhalb traditioneller politischer Strukturen organisiert und individuell angepasste und themenorientierte Gestaltungsmöglichkeiten sucht.Überzogene Erwartungen ans InternetDie Geschichte des Internets ist auch eine Geschichte demokratietheoretisch überzogener Erwartungen. Es ist kein Allheilmittel, aber Ausdruck und Treiber, Indikator und Faktor eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandels, dem sich die Politik stellen muss. Dies setzt voraus, dass sie ihre institutionellen Arrangements, aber auch ihre Denkweisen in Übereinstimmung den Realitäten der digitalen Moderne anpasst, das heißt die Horizontalität und Dezentralität des Netzes nutzt und sich neuen Beteiligungsformen öffnet. Dies bedeutet zunächst die Abgabe bestehender Machtpotenziale, birgt aber enorme Chancen für eine diskursive Führungspraxis, die im Sinne einer „Mit-Wirkungs-Demokratie“ oder „kollaborativen Demokratie” (Beth Noveck) auf eine ziel- und ergebnisgerichtete Bürgerbeteiligung abzielt. Nicht nur kann unter solchen Bedingungen ein wichtiger Beitrag zur Wissensbasierung und Ergebnisqualität politischen Handelns entstehen, es lassen sich auch jene Wertsetzungen intensiv diskutieren, die konkrete politische Projekte immer überwölben. Schließlich lässt sich Politik niemals wertfrei und allein nach Maßgabe vermeintlich empirisch objektivierbaren Wissens gestalten.Schon deshalb bedeutet gute Führung im öffentlichen Raum nicht in erster Linie Fachkompetenz, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit und die Moderation von Diskurs-, Meinungs- und Wertemanagement. Das setzt freilich Willen und Fähigkeit voraus, eigene Werte zu reflektieren und sie programmatisch in den Diskurs einzubringen. Auf die Notwendigkeit, sich systematisch mit den eigenen Werten zu befassen und darauf aufbauend in den Dialog mit den Anhängern zu treten, hat der einflussreiche US-Linguist und Politikberater George Lakoff hingewiesen: „know your values and frame the debate“.Notwendige NeudefinitionIn Deutschland verdunkeln die langen Schatten des Dritten Reiches längerfristige Prägungen und Befindlichkeiten, die für eine zeitgemäße, partizipative Neudefinition des Führungsbegriffes wertvolle Anregungen liefern. Denn Führung ist in Deutschland (sowohl in der staatsphilosophischen Theoriebildung als auch in der politischen Praxis) traditionell auf Aushandlung und Integration programmiert, mithin auf eine sehr partizipationsreiche und gemeinschaftliche Beilegung von Konflikten. So wurde Führung sowohl in der staatsphilosophischen Theoriebildung als auch in der politischen Praxis Deutschlands in der Neuzeit weniger als autoritäres Modell denn als kooperatives Unterfangen betrieben. Das unter Berücksichtigung der politischen und verfassungsrechtlichen Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik gestaltete politische System der Bundesrepublik knüpfte in seinem vielschichtigen Föderalismus an diese institutionellen Traditionen und Mentalitäten an.Die sich aus den vielfältigen Verhandlungs- und Abstimmungsprozessen zwischen Bund, Ländern und EU-Ebene sowie der Koalitionsdemokratie ergebenden Schwierigkeiten sind in der deutschen „Reformstau“-Debatte ausführlich thematisiert worden. Unablässig wird von öffentlichen Führungskräften in diesem Zusammenhang ein ähnlich effizientes und effektives Handeln wie von Unternehmensführungskräften gefordert. Doch der bewusste Verzicht beziehungsweise die Einhegung starker Führung bringt auch Chancen mit sich – gerade in der globalisierten, vielfach vernetzten Wissensgesellschaft, die traditionelle, hierarchische Steuerungsmodelle zusehends dysfunktional erscheinen lässt. So kann die in Deutschland historisch und kulturell verankerte Konsensbindung ein neues Modell guter politischer Führung prägen, das mit einer Entpersonalisierung verbunden ist. Es lenkt den Blick auf Führung als Steuerung nicht-hierarchischer Netzwerke und auf die Relevanz von Führung als diskursive Kompetenz im Umgang mit divergierenden Meinungen und Werten.Führung und Demokratie – keine GegensätzeDer Verlust einer autoritären Form der Kontrolle, den eine derart gestaltete Führungspraxis mit sich bringt, ist kein Angriff auf die zentralen politischen Intermediäre Parteien und Verbände – er liegt vielmehr in ihrem und im Eigeninteresse des politischen Systems insgesamt und bietet eine eminente Chance für eine ebenso Wissen wie Legitimität stiftendende Revitalisierung der Demokratie. Somit ist die Frage nach guter Führung in der Demokratie primär eine Frage von Strukturen und Werten – und nicht etwa eine Frage danach, „wer“ führen soll. Damit ist nicht gemeint, dass letztlich jeder Führende austauschbar ist und der Einzelne keinen Unterschied macht. Gerade weil dies nicht der Fall ist, ist es entscheidend, Führung als Prozess dergestalt zu institutionalisieren, dass unabhängig von den kontingenten individuellen Kompetenzen der tatsächlich Gewählten gute, gemeinwohlfähige Ergebnisse entstehen.Führung und Demokratie sind keine Gegensatzbegriffe – vielmehr bedingen sie sich gegenseitig. Offenere Parteistrukturen, flexiblere Mitwirkungsmöglichkeiten aber auch die Interaktivität des Internets bieten hier Möglichkeiten – Potential für eine zeitgemäße Führungspraxis, die nicht technokratischer Selbstzweck ist, sondern auf Partizipation und Austausch zwischen Regierenden und Regierten basiert.