Jen Barber jauchzt: „Ladies and Gentlemen, may I present to you: the internet!“ Die Managerin steht vor einem Publikum voller Schlipsträger und zieht ein dünnes Tuch von einer kleinen schwarzen Box, auf der ein rotes Lämpchen in ruhigem Herzschlag blinkt. Ehrfürchtiges Raunen, begeistertes Klatschen, blitzende Kameras würdigen den stummen Kasten, kaum größer als ein Tetrapack Traubensaft. „Warum lacht niemand?“, wundern sich Jens Kollegen; das IT-Team der Firma Reynholm Industries hatte seiner Chefin kurz zuvor weis gemacht, der Apparat sei tatsächlich das Internet und sie könne Eindruck damit schinden, wenn sie die Technologie mit zu einer Shareholder-Präsentation bringe.
Diese Szene aus der britischen Sitcom The IT-
om The IT-Crowd stammt aus dem Jahr 2008, unter Nerds ist sie ein Klassiker. Doch sie klebt auch jetzt noch wie eine Schablone auf den politischen Definitionsversuchen der digitalen Gesellschaft. Das Netz als Ganzes zu fassen, zu erklären und dann zu regulieren scheint Wunsch und Anspruch von Politikern, Verlegern und Publizisten zu sein, die in Netzdebatten um die Deutungshoheit ringen.Hui, in der Black Box lebt’s jaDas WWW – drei Buchstaben als kleinster gemeinsamer Nenner, über den die meisten Nutzer irgendwann ihre ersten Schritte ins Netz gewagt haben – war in diesen Überlegungen lange unter den Tisch gefallen: Jugendschutz über Öffnungszeiten für Webseiten in Deutschland, der Facebook-Austritt einer deutschen Ministerin als politische Drohgebärde, verschwommene Fassaden, die das deutsche Stadtbild in seiner virtuellen Abbildung hässlicher machen als die Innenstadt von Krefeld tatsächlich ist. Wenn man so will, gleicht die deutsche Vorstellung vom World Wide Web der kleinen schwarzen Box aus der IT-Crowd-Episode, die mit wenig Leuchtkraft blinkt – der aber vor allem die Rednerin fehlt, die es der Öffentlichkeit enthusiastisch präsentiert.Cyberwaffen, Wikileaks, die Koordination der Proteste im arabischen Frühling über Facebook – erst diese großen, die politische Macht bedrohenden Szenarien haben dazu beigetragen, dass Landesgrenzen in deutschen Debatten übers Netz beginnen, eine etwas kleinere Rolle spielen. Doch die Vorstöße, die man zuletzt aus dem Bundeskanzleramt vernahm, lassen keinen Weitblick erkennen: weder in technologischer noch in politischer Hinsicht. Sie widmen sich nicht einmal den Möglichkeiten digitaler Demokratie, die bestehende politische Prozesse verändern könnten. Erst vor wenigen Wochen forderte Michael Wettengel, Mitglied der IT-Steuerungsgruppe des Bundes, abermals eine Ethik für das Internet. Er ist nicht der erste, der sich an Pseudonymen stört und die Kommunikationskultur im Netz als verkommen betrachtet. Doch genau die Forderung nach einer eigenen Netzethik beharrt auf der Wahrnehmung des Internets als schwarze Box, als wäre es exakt bemessen und handtaschengroß.Doch das Internet ist keine Schachtel mit bunten Pillen, über deren Packungsbeilage ein sicherer und gesunder Gebrauch gewährleistet werden kann. Es ist in seiner Gesamtheit nicht zu fassen, nicht festzuhalten und weder definierbar als Ding, als Technologie noch als Geisteshaltung. „Ich bin im Internet“ kann vieles bedeuten; für jeden einzelnen Besucher des Netzes hat sein Betreten einen eigenen Stellenwert, einen eigenen Nutzen, es birgt Herausforderungen, Chancen und Gefahren – andere hingegen langweilt es nur.Eine Ethik für das Internet zu fordern klingt, als handele es sich bei der digitalen Welt um ein fremdes Gesellschaftssystem, als beträten Nutzerinnen und Nutzer eine gänzlich frische Spielwiese auf der die Regeln zunächst ausgefochten werden müssten, als verlören Menschen mit der Öffnung eines Browsers ihr Wertesystem, und müssten in ihrem Onlineleben ein neues erwerben. Diese Forderung klingt, als sei das Leben, das im Netz stattfindet, nicht echt und vom Handeln im Offline entkoppelt.Über eine eigene Ethik für das Internet nachzudenken, bedeutet auch Ethikunterricht, urteilen über moralische Verstöße, nicht tolerierbares Verhalten auf der einen Seite, Fleißkärtchen für die Angepassten auf der anderen. Und damit kommen wir der Sache näher: eine Ethik für das Netz nicht nur zu diskutieren und zu formulieren, sondern auch anzuwenden, ist im Kern das, was Community-Manager online bereits leisten. Doch diese tun dies nicht als Internetpolizei, die netzweit durchgreift, wenn Menschen miteinander Konflikte austragen; sie sorgen in der Regel in kleineren Online-Gruppen dafür, dass Umgangsformen eingehalten werden.Communities entstehen entlang von Interessen, Fragen oder ähnlichen Gewohnheiten, etwa dem Konsum von bestimmten Medien und Produkten. Für Außenstehende sind die Verhaltensweisen innerhalb dieser Gemeinschaften nur schwer zu fassen, denn homogene Verbünde neigen zu Gruppendynamiken und Riten, die codiert sind, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben. Der ausschnitthafte Blick auf digitale Gemeinschaften von „interessierten Beobachtern“ führt dann zu Fehlinterpretationen, zu stark selektiven Wahrnehmungen, an deren Ende steht: das Netz ist voller Rüpel, Dummköpfe, lichtscheuer Nerds, Magermädchen aus pro-anorektischen Foren oder passiver Sonntagssurferinnen.Genauso urteilen Zaungäste anderer Gemeinschaften. Belauschen Sie einmal Teenager in der U-Bahn oder die Kongressgespräche ergrauter Physiker. „Auf eigene Faust nicht lebensfähig“ oder „Was finden die nur aneinander?“, mag man denken. Für die Dauer ihres Zusammenschlusses jedoch erleben die Mitglieder ihre Gemeinschaften als vital. Nicht das Internet folgt eigenen Gesetzen, Communities tun dies.Für machtpolitisch geprägte Menschen mag es schwer verständlich sein, dass ein Lebensraum bevölkert von autarken, sich selbst regulierenden Gemeinschaften ohne eine höchste legislative Instanz funktioniert, dabei sogar gedeiht.Drollig trollige ForderungDas Verständnis der Politik wird sich nicht wesentlich bessern, wenn sie die digitale Gesellschaft nicht ganzheitlich betrachtet. Noch immer haben Netzthemen kaum Gewicht, das Web wird vor allem als regulierungsbedürftig betrachtet, seine Chancen kaum gesehen. Doch selbst mit twitternden Regierungssprechern, etwaigen Community Managern des Bundes oder einem Weisenrat läuft es auf die Erkenntnis hinaus: Es kann weder eine einheitliche nationale noch eine globale Ethik fürs Netz geben. Schon die Eigenständigkeit der bestehenden Communities steht diesem Ansinnen entgegen.Und all die Beleidigungen, Stalker, Shitstorms und Trolle? Ich frage zurück: Warum benötigen wir eine eigene Ethik für das Netz, wenn Community-Manager im vermeintlich friedlichen Miteinander der Offline-Idylle zahllose Anlässe fänden, um auf den Löschknopf zu klicken oder User zu sperren? Schulhöfe, Boulevardmedien, ohne Zweifel auch Reden im Bundestag, die die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten, überleben wir alle im Alltag mühelos. Noch ist es zu großen Teilen das Leben abseits des Netzes, das uns ein Verständnis für den respektvollen Umgang miteinander vermittelt. Mit diesem Wissen betreten wir die digitale Welt.Während fernab der Politik die Partizipationslinien im Netz offengelegt und ausgeschöpft werden, sorgt sich eine kleine Gruppe verschnupfter Offliner um eine kleine Gruppe keifender Onliner. Diese als Grundgesamtheit der Netznutzer zu nehmen, um daraus eine Handlungsempfehlung für die digitale Gesellschaft zu geben, entspricht kaum den Anforderungen an politische und wissenschaftliche Ethik. Wer eine Debatte ohne Austausch, ohne Unterlass und mit den stetig gleichen Aussagen versucht in eine bestimmte Richtung zu drängen, gilt nicht nur im Internet als Troll.